Mittwoch, 4. Juli 2018

Chrestomathia Erdoganica (3) – Das Lied ist nicht zu Ende

von Corax
zuerst veröffentlicht am 21.04.2008 auf Kewils Blog "Fakten - Fiktionen"

Am 25. September 1998, einen Tag nachdem das Kassationsgericht die Verurteilung des Istanbuler Oberbürgermeisters Tayyip Recep Erdogan auf Grund seiner Rede in Siirt, in der er die berüchtigten Minarettenverse rezitiert hatte, wegen Volksverhetzung zu zehnmonatiger Haft, einer Geldstrafe und lebenslänglichem Politikverbot bestätigt hatte, fand im Festsaal des Rathauses zu Istanbul eine Pressekonferenz statt, auf der Erdogan vor rund 200 Pressevertretern aus dem In- und Ausland zu seiner Verurteilung Stellung nahm.

Seine Stellungnahme ist mehr als eine Stellungnahme vor der Presse, es ist eine Rede an die Nation oder an seine Anhänger, die er als die wahren oder rechtmäßigen Träger der Nation betrachtet. Zugleich richtet er sich mit seiner Rede auch an die demokratische Welt, um sie zu bewegen, ihn, der die Demokratie als Mittel bezeichnet hat, um ganz andere Ziele zu erreichen, wie etwa die Abschaffung menschengemachter Gesetze, zu unterstützen.

Vor dem Rathausgebäude und in den angrenzenden Seitenstraßen hatte sich eine Menschenmenge von ungefähr 30.000 Menschen wie zu einer Demonstration versammelt, um Erdogan zu hören, zu sehen und zu unterstützen. Auf drei draußen aufgebauten Großbildschirmen verfolgt die Menge die aus dem Festsaal übertragene Rede.

Also sprach Erdogan:

"Dieses Urteil hat seinen Schatten nicht nur auf das Rechtsverständnis unseres Landes, sondern auch auf das Vertrauen einer ganzen Nation in die Justiz geworfen. Trotzdem bin ich zuversichtlich. Denn solange meine Nation nicht betrübt ist, bin auch ich nicht betrübt. Soll doch Tayyip Erdogan verurteilt werden. Denn nur eines zählt: Diese liebe Nation darf niemals verurteilt werden und betrübt sein. Ich bedanke mich bei allen, die mit mir fühlen, und ich sage es wieder: Hier bin ich. Hier stehe ich vor den Augen meiner geliebten Heimat und der Weltöffentlichkeit und bin beruhigt. Seid auch ihr beruhigt. Dieses Lied ist hier nicht zu Ende. Denn wir sind ein Marathonläufer und wir sind mit dieser lieben Nation in leidenschaftlicher Liebe verbunden. Ich grüße euch alle voller Achtung und sage: Was Allah sagt, wird geschehen, und ich gebe euch Allah anheim.

Ich bin verurteilt worden, weil ich ein Gedicht rezitiert habe. Ich möchte vor allen Dingen deutlich machen, daß dieses Urteil eine Tragödie, eine beschämende Episode in unserer Rechtsgeschichte ist. Daß ich in einer Atmosphäre, in der die Bildung mafioser Gruppierungen und die Verdorbenheit einen Tiefpunkt erreicht haben, nicht wegen Korruption, nicht wegen Mordes, nicht wegen Verstoßes gegen die Rechte der Diener * bestraft werde, sondern einzig und allein wegen eines Gedichtes, das ich rezitiert habe, demütigt nicht mich, sondern einzig das Rechtsverständnis dieses Landes.

Dieses Strafurteil hat nicht das Vertrauen von Millionen in mich erschüttert; es hat ihr Vertrauen in die Gerechtigkeit erschüttert. Schon seit langem sind wir infolge der Parteiverbote und der Internierungen von Denkern, Politikern, Intellektuellen und Journalisten in Sorge darüber, daß die Politik einen Schatten auf die Justiz wirft, daß die Justiz politisiert wird. Andererseits haben wir doch auch immer tief in unserem Herzen fest daran geglaubt, daß die Tage kommen werden, wann die Gerechtigkeit sich offenbart, die Justiz einzig nach den Prinzipien der Gerechtigkeit arbeiten wird und wir diese einer dunklen Epoche zugehörigen Fatalitäten hinter uns lassen werden. Aber nach diesem letzten Urteil sehen wir: Die Justiz ist, wie der verehrte Vorsitzende des Kassationsgerichts bei der Eröffnung des neuen Gerichtsjahrs selbst zum Ausdruck gebracht hat, nicht wirklich unabhängig

Unsere politischen Konkurrenten [...] müssen sehr wohl begriffen haben, daß sie an den Wahlurnen gegen uns nicht bestehen können, daß sie uns nicht aufhalten können, denn sonst hätten sie nicht diesen Weg beschritten. Es ist ein falscher Weg. Denn eines Tages werden auch diejenigen, die jetzt die Justiz politisieren, die Gerechtigkeit nicht entbehren können. Dieses Urteil und die anderen Fehlurteile im Bereich der Gedankenfreiheit können Sie Ihren  eigenen Kindern nicht verständlich machen. Sie können es der Welt, in der wir leben, nicht verständlich machen. Denn bis heute hat noch nie irgendein Rechtsverständnis, irgendeine Regierung, irgendeine Macht ein Unrecht, das wem auch immer angetan worden war, legalisiert.

Schauen Sie sich die Katastrophe von Yassiada ** an, diese Katastrophe der Geschichte der Rechts, der Politik und der Demokratie in diesem Land. Seitdem sind 40 Jahre vergangen, die Welt hat sich verändert, aber betrachten Sie den Punkt, an den unser Land bei seinem Streben nach Menschenrechten und Demokratie gelangt ist. Wir stehen auf der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert. Betrachten Sie die Themen, mit denen wir uns beschäftigen. Wir klagen ein Gedicht an, wir grenzen einen Gedanken aus, wir stellen die Freiheiten zurück. Und dann beklagen wir uns darüber, daß uns die Welt wegen der Menschenrechte, wegen der Gedanken- und Ausdrucksfreiheit nicht mag. Wie weit können Sie mit diesen Verboten kommen? Welche Wahrheit können Sie mit diesen Verboten verdecken?

Ich denke nicht, daß ich mit dem Rezitieren dieses Gedichts irgendeinen Fehler gemacht hätte, und ich glaube, daß ich definitiv unschuldig bin. Ich habe in jener Rede zur nationalen Einheit, zum sozialen Frieden, zur untrennbaren Einheit des Landes aufgerufen. Es war die Stimme des Gewissens meiner lieben Nation, die für mich so wertvoll ist. Und meine liebe Nation wird auch meinen Platz in der Politik bestimmen.

Daher ist dieses ungerechte Urteil, das über mich gefällt wurde, für unseren Kampf um die Demokratie eine neue Auferstehung. Ein neuer Anfang. Möge er mit Glück gesegnet sein. Hat Tayyip Erdogan Spaltung betrieben? Hat er Hetze betrieben? Oder hat er einzig und allein dieser Nation gedient?

Jeder, der in meinem Land gedacht hat, gesprochen hat, gedient hat, wurde drangsaliert. Jetzt wollen sie auch uns drangsalieren. Wir werden uns nicht drangsalieren lassen, wir werden uns nicht einschüchtern lassen und wir werden mit noch größerer Stärke hervortreten. Mit diesem Urteil ist überhaupt kein Schlußstrich gezogen worden. Solange diese Seele in diesem Leib wohnt, wird sie zur Ungerechtigkeit nicht schweigen, werden wir weiterhin im Rahmen der universellen rechtlichen Regeln das Recht meiner Nation verteidigen."

* 'Rechte der Diener': 'Menschenrechte' in islamischem Sinn. 'Diener (Gottes)' = 'Mensch'.
** 'Katastrophe von Yassiada': Nach dem Militärputsch im Jahr 1960 wurde auf der Marmarainsel Yassiada der erste frei gewählte und zugleich erste islamistische Ministerpräsident Adnan Menderes zu Tode verurteilt. Ihm wurde der Versuch vorgeworfen, die Staatsverfassung aufheben und zu ersetzen, unter anderem wurde er aber auch beschuldigt, Drahtzieher der antigriechischen Pogrome in Istanbul im Jahre 1955 gewesen zu sein, bei denen mehrere Menschen ermordet wurden.

Der Chor:

Erdogan machte einen sehr bedrückten Eindruck. Die Menschenmenge draußen befeuerte ihn mit skandierten Parolen und Gesängen, konnte ihn damit aber nicht aufheitern. Erdogan war bei seiner Rede ruhig und gefaßt, an einigen Stellen wurde er emotional und erhob, wenn er seine Unschuld beteuerte, seine Stimme. Dabei begannen das AKP-Vorstandsmitglied Oya Akgönenç und einige Magistratsangehörige, lautlos zu weinen. Als Erdogan während seiner Rede auf das Gedicht, das zu seiner Verurteilung führte, zu sprechen kam, skandierte die Menge: "Noch einmal, noch einmal!". Erdogan erfüllte ihren Wunsch jedoch nicht.

Die Menschenmenge erfüllte sich diesen Wunsch selbst und rief aus einem Mund: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette sind unsere Bajonette". Sie sang auch gemeinsam die Nationalhymne und die Verse: "Wir wanderten gemeinsam auf diesen Wegen / Wir wurden gemeinsam naß im Regen / Jetzt geht's der Ministerpräsidentenschaft entgegen."

Die Menschenmenge kommt einer Demonstration gleich. Einige halten Poster und Transparente hoch, einige waten sogar trotz der frischen Witterung mit hochgehaltenen Postern in das Wasserbecken vor dem Rathausgebäude. Hürriyet notierte die Parolen, die von der Menge skandiert wurden:

"Dschihadkämpfer Erdogan"
"Schlag zu, schlag zu, sie sollen wimmern, Ankara soll hören!"
"Stirb, dann wollen auch wir sterben, schlag zu, dann wollen auch wir zuschlagen!"
"Ehrlose Medien!"
"Der Dicke in Çankaya * ist der Feind des Islam"
"Wo der Bürgermeister ist, sind wir!"
"Die Türkei ist stolz auf dich!"
"Regierung, zurücktreten!"
"Israel ist stolz auf Mesut" **
"Der Bürgermeister ist hier. Wo sind die Verbrecherbanden?"
"Wir sind zum Trotz alle Tayyips!"
"Hier sind die Tayyips. wo sind die Ehrlosen?"
"Allahu akbar!"

* Süleyman Demirel, der damalige Staatspräsident; Amtssitz in Çankaya
** Mesut Yilmaz, der damalige Ministerpräsident

Ausklang

Nach der Pressekonferenz trat Erdogan zusammen mit seinem Parteifreund Recai Kutan, dem Vorsitzenden der Tugendpartei, auf den Balkon, um die Menschenmenge zu begrüßen. Journalisten, Fotografen und Kameraleute, die ebenfalls auf den Balkon hinausgehen, um das Geschehen zu verfolgen, werden von der Menge mit Münzen, Feuerzeugen und ähnlichem beworfen. Ein Abgeordneter der Tugendpartei tritt vor, um die Menge zu beruhigen, wird aber von einem Wurfgeschoß an der Augenbraue verletzt und drängt daraufhin die attackierten Presseleute ins Gebäude zurück. Pressevertreter, die später das Gebäude verlassen wollen, werden ebenfalls von der Menge attackiert und genötigt, wieder im Rathaus Zuflucht zu suchen. Sie können schließlich nur unter dem Schutz von Sicherheitskräften das Gebäude verlassen.

Tags darauf kritisierte der türkische Presserat in einer schriftlichen Erklärung die Ausschreitungen. Darin hieß es: "Die politischen Kräfte, die das richterliche Urteil nicht anerkennen, gebrauchen das Wort 'Demokratie', das sie ständig im Munde führen, als eine Waffe gegen die physische Sicherheit der Presse und gegen das Recht, das Volk zu informieren."


Die vier der fünf Richter vom Kassationsgericht, die für das Urteil gestimmt hatten, erhielten nach der Urteilsverkündung unzählige Telefonanrufe und Briefe mit Beschimpfungen und Drohungen und wurden daher unter verstärkten Sicherheitsschutz gestellt. Die Zeitung Akit (der Vorläufer der islamistischen Zeitung Anadoluda Vakit) quittierte dies mit den höhnischen Schlagzeilen "Sie wagen sich nicht unter die Menschen" und "Sie haben sich in ihre Häuser eingeschlossen" und schreibt: "Die vier Verbotsrichter der 8. Strafkammer vom Kassationsgericht können niemandem mehr ins Gesicht sehen, weil sie ihr gegen die Gedankenfreiheit verstoßendes Urteil nicht verteidigen können." Auch andere islamisch gesinnte Zeitungen hetzten gegen die Richter.

Reaktionen aus dem Ausland

Aus Europa waren prompt Reaktionen auf den Urteilsspruch Kassationsgerichts eingegangen. Etwa 30 Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des Europarats hatten dazu eine schriftliche Erklärung aufgesetzt, worin sie das Urteil kritisierten. Andras Barsony und Walter Schwimmer (letzterer damals laut Wikipedia unter anderem Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei-Christdemokraten, Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und stellvertretender Vorsitzender des Rechts- und Menschenrechtsausschusses), die gerade vor zwei Wochen die Türkei besucht hatten und der Parlamentarischen Versammlung in den nächsten Tagen einen Türkeibericht vorlegen sollten, erklärten, daß Erdogan wegen Gedankenäußerungen verurteilt worden sei, und daß dieses Urteil gegen die Europäische Menschenrechtsvereinbarung verstieße. Auch das Europäische Parlament zeigte Reaktion. Der österreichische Abgeordnete Johannes Swoboda, der im November desselben Jahres einen Bericht zur Türkei vorlegen sollte, bewertete das Urteil als "beschämend für einen Anwärter auf EU-Mitgliedschaft wie die Türkei"

Auch von Seiten der USA kamen Reaktionen, die Erdogan unterstützten. Die amerikanische Generalkonsulin erklärte nach ihrem Besuch bei Erdogan: "Die Verurteilungen demokratisch gewählter Politiker aufgrund von Reden, die sie gehalten haben, verringern das Vertrauen in die türkische Demokratie."

Aus den islamischen Bruderländern dagegen kommt noch fünf Tage nach der Urteilsverkündung keinerlei Reaktionen, wie die Tugendparteileute enttäuscht zur Kenntnis nehmen. Parteichef Recai Kutan: "Ich denke es ist noch zu früh. Warten wir ab, welche Reaktion kommen wird."

Dieser Artikel beruht auf Berichten aus der türkischen Tageszeitung Hürriyet, die im Jahr 2008 noch im Internet verfügbar waren. Im Einzelnen:
Pressekonferenz und Reaktionen aus Europa: Hürriyet vom 25.09.1998
Erklärung des Presserats: Hürriyet vom 26.09.1998
Hetze islamischer Zeitungen gegen die Richter: Hürriyet vom 29.09.1998
Reaktion aus USA: Hürriyet vom 02.10.1998
Ausbleibende Reaktionen aus islamischen Ländern: Hürriyet vom 30.09.1998

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