Montag, 9. Juli 2018

Chrestomathia Erdoganica (7) - Intervention des Generalstaatsanwalts

von Corax
zuerst veröffentlicht am 06.06.2008 auf Kewils Blog "Fakten Fiktionen"

Am 14. März 2008 reichte der höchste Staatsanwalt der Türkei, der Generalstaatsanwalt der Republik am Kassationshof Abdurrahman Yalçinkaya, einen Verbotsantrag gegen die Regierungspartei AKP verbunden mit einem Antrag auf Verbot parteipolitischer Tätigkeit für 71 AKP-Politiker, darunter Staatspräsident Abdullah Gül, Ministerpräsident Erdogan und der ehemalige Parlamentspräsident Bülent Arinç, ein.

In seiner 162-seitigen Anklageschrift versucht der Generalstaatsanwalt anhand einer Dokumentation von Aktivitäten und Zitaten von AKP-Politikern nachzuweisen, daß die AKP mit ihrer Politik die Umwandlung der türkischen Republik in einen islamischen Schariastaat betreibe. Im folgenden bringe ich Zitate aus der Anklageschrift, wie sie die Hürriyet am 16. März ihren Lesern unter der Überschrift “Die Demokratie ist das Mittel, das Ziel ist die Scharia” präsentierte. Die von der Hürriyet zitierten Stellen habe ich mit der Anklageschrift verglichen und die entsprechenden Stellen direkt aus dem Original übersetzt (die Hürriyet hatte teilweise leicht gekürzt). Hier die Zitate:

    “Die Möglichkeit, daß […] der politische Islam oder auch das Modell eines gemäßigten Islams, in das man die Türkei einfügen will, sich in einen Schariastaat wandelt, und daß dabei bei Bedarf auch Terror angewandt wird, ist nicht zu unterschätzen. So haben zum Beispiel in der jüngsten Vergangenheit in unserer Region einige Länder, die häufig als Beispiel für eine Übergangsepoche vorgebracht worden waren, später eine ausweglos radikale Veränderung durchgemacht und sich dabei zu radikalreligiösen Staaten gewandelt.”

    “Die [in dieser Anklageschrift] deutlich gemachten Aktivitäten [der beklagten Partei] und insbesondere ihre Gesetzesvorschläge, welche Veränderungen im Grundgesetz und im Hochschulgesetz beinhalten, zeigen ganz klar die Absicht, den Boden für eine Veränderung der fundamentalen Prinzipien der Republik Türkei zu bereiten.”

    “Wenn man beachtet, daß eine politische Partei, die eine Brutstätte von gegen das laizistische Rechtssystem gerichteten Aktivitäten darstellt, auch noch eine Mehrheitsregierung stellt, sieht man, daß eine Gefahr im Sinne einer Verwirklichung des angestrebten Modells [der Scharia] besteht, daß diese Gefahr hinreichend nah ist, daß die Aktivitäten der beklagten Partei geeignet sind, das anvisierte Gesellschaftssystem zu errichten, und daß das Risiko jeden weiteren Tag ihrer Regierung wächst.”

    “Die Deklarationen bezüglich der Freigebung des Kopftuchs in öffentlich-staatlichen Räumen und im Türkischen Parlament sowie die Initiativen zur Abschaffung des auf die Absolventen der Imam-Hatip-Gymnasien angewandten Koeffizientensystems(1) macht diese Gefahr noch konkreter und dringlicher. Es kann natürlich nicht in Frage kommen, hinzuwarten, bis die beklagte Partei den gesellschaftlichen Frieden in Gefahr bringt und das anvisierte Modell verwirklicht hat.”

    “Die einzige und zwingende, auch in sozialer Hinsicht erforderliche Methode, um die beklagte politische Partei von ihrem Ziel abzubringen, ist nur die Sanktion einer Parteischließung, es bleibt keine andere Möglichkeit, um die Gesellschaft vor der Gefahr zu beschützen, der sie gegenübersteht. Die Aktualisierung der Werte des Systems, das mit der Gründung der Republik abgeschafft wurde, wird im Hinblick auf das demokratische System und die demokratische Gesellschaft unvermeidlich zu sehr schwerwiegenden Folgen für die laizistische Grundordnung und deren Verteidigung führen.”

    “Es kann nicht behauptet werden, daß ein Verbot einer politischen Partei, die mit ihren Aktivitäten (insbesondere mit der Änderung der Artikel 10 und 42 des Grundgesetzes(2), und der Änderung des Zusatzartikels 17 des Hochschulgesetzes(3), welche auf indirektem Wege das laizistische Prinzips beseitigen würden) in offener Weise die Verwirklichung des islamischen Systems betreibt, den zwingenden sozialen Erfordernissen und den Voraussetzungen der demokratischen Gesellschaft zuwiderläuft, daß es abstrakt, unplausibel und unausführbar sei. Denn für eine politische Partei, welche die Möglichkeiten der Regierungsmacht ausschöpft, ist die Konkretisierung dieser Angelegenheiten gleichbedeutend mit einer Abschaffung des demokratischen Systems. Wenn daher die Scharia, d.h. die Gewalt, erst einmal konkret geworden ist, wird von einem demokratischen System, das versucht, sich selbst zu schützen, keine Rede mehr sein können.”

    “Es steht fest, daß [die beklagte Partei] entschlossen ist, die laizistische Republik in eine neue Lebens- und Staatsordnung zu überführen, daß sie beginnt, die Gesellschaft in Fromme und Nichtfromme zu spalten, daß sie daraufhin arbeitet, das laizistische Rechtssystem des Landes etappenweise neu zu formen, daß sie eine Debatte um die Zukunft der Staatsform und der Republik eröffnet hat.”

    “Wenn das Prinzip des Laizismus, welches eine Vorgabe des Grundgesetzes ist, die nicht verändert werden darf, und deren Abänderung nicht vorgeschlagen werden kann, beschädigt wird, tritt die Zuständigkeit und die Pflicht der Generalstaatsanwaltschaft der Republik am Kassationshofs zum Schutz des politischen Systems des Staates in Kraft. Die grundlegende Aufgabe der Generalstaatsanwaltschaft der Republik am Kassationshof ist, die Republik, ihre Prinzipien und ihre Errungenschaften zu schützen.”

    “Es wurde erkannt, daß das Endziel der politischen islamistischen Strömungen in der Türkei und der mit ihrer Politik auf denselben Grundlagen beruhenden beklagten Partei darin besteht, anstelle des Rechtsstaats ein auf religiösen Fundamenten beruhendes Staatssystem (Scharia) zu errichten. Sie haben mit eigenen Aussagen erklärt, daß sie bis zur Erreichung dieses Ziels die Methoden der “Takiyya” anwenden werden. Ihr Rat zu Geduld und Zurückhaltung gegenüber dem Druck ihrer [Partei]Basis ist ein Zeichen dafür.”

    “In diesem Zusammenhang wurden Parteien, die sich nicht an das Prinzip des Laizismus, das eine Grundlage der im Grundgesetz festgelegten freiheitlichen demokratischen Ordnung darstellt, hielten, mit anderen Worten antilaizistische Parteien, verboten, und man hat sich in diesen Fällen die Sanktion der Parteischließung zu Eigen gemacht. Dieses Verbot, diese Sanktion ist, wenn man die möglichen Gefahren für das laizistische Staatssystem in Betracht zieht, in gleichem Maße legal und rechtmäßig wie ein Verbot der Nazipartei in Deutschland und Österreich und der faschistischen Partei in Italien.”

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Anmerkungen:

1)
Ein “Koeffizientensystem” regelt den Zugang zu den Hochschulen. Bei diesem Verfahren werden Abgänger der Imam-Hatip-Gymnasien, die ursprünglich nur Imame und Prediger ausbildeten, mittlerweile aber neben den religiösen Fächern im selben Umfang unterrichten wie normale Gymnasien, benachteiligt. Die AKP wollte den Hochschulzugang 2004 neu regeln, um Imam-Hatip-Abgänger ungehinderten Hochschulzugang zu verschaffen, wurde aber durch das Veto des damaligen kemalistischen Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer daran gehindert. (Quelle: Die Neue Ordnung)

2)
Absatz 10 des Grundgesetzes handelt von der Gleichheit vor dem Gesetz. Der erste Absatz lautet:

“Jeder ist vor dem Gesetz ohne Unterschied aus Gründen der Sprache, der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, des politischen Denkens, der philosophischen Überzeugung, der Religion, der Konfession oder Ähnlichem gleich.”

Der letzte Absatz lautete:

“Die Staatsorgane und die Regierungsstellen müssen sich in allen Amtsgeschäften nach den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz richten.”

Dieser letzte Absatz wurde durch einen Zusatz und eine Änderung modifiziert und lautete vom 22. Februar bis zum 5. Juni 2008 (Zusatz, Änderung kursiv):

“Die Staatsorgane und die Regierungsstellen müssen sich in allen Amtsgeschäften und bei jedweder Inanspruchnahme öffentlicher Dienste nach dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz richten.”

Absatz 42 handelt vom Recht auf Bildung und von der allgemeinen Schulpflicht.

Sein erster Absatz lautete:

“Niemandem darf das Recht auf Bildung benommen werden.”

Der zweite Absatz:

“Der Umfang des Rechts auf Bildung wird durch das Gesetz bestimmt und festgesetzt.”

Die Änderung besteht aus einem neuen zusätzlichen Absatz, worin es um das Recht auf Hochschulbildung geht. Dieser neue Zusatzartikel nimmt den Inhalt von Artikel 1 und 2 auf, mit zwei entscheidenden Zusätzen (Zusätze kursiv):

“Niemandem darf aus Gründen, die im Gesetz nicht klar niedergelegt sind, das Recht auf Hochschulbildung benommen werden. Die Grenzen der Ausübung dieses Rechts werden durch das Gesetz bestimmt und festgesetzt.”

Diese Änderungen zielten auf eine Aufhebung des Kopftuchverbots an Hochschulen. Dieses Verbot ist nämlich in keinem Gesetz niedergelegt. Vielmehr beruht es auf einem “Verfassungsgerichtsurteil, wonach Kopftücher an staatlichen Einrichtungen den säkulären Grundlagen der Republik widersprechen.” (WELT)

Gegen diese beiden Grundgesetzänderungen hatten die kemalistische Partei CHP (Republikanische Volkspartei) und die DSP (Demokratische Linkspartei) beim Verfassungsgericht geklagt. Dieses hat daraufhin am 5. Juni 2008 diese Änderungen wieder aufgehoben, weil sie den laizistischen Prinzipien der Republik widerprächen.

Eine kurze prägnante Darlegung der Gründe für das Urteil des Verfassungsgericht findet sich in dem bereits zitierten WELT-Artikel:

“Die Richter befanden, dass die Gesetzesänderungen der AKP gegen Artikel 2, 4 und 148 der Verfassung verstossen. Artikel 2 besagt, dass die Türkei ein säkulärer, demokratischer Sozialstaat ist. Artikel 4 betont, dass Artikel 2 nicht geändert werden kann. Artikel 148 handelt von den Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts.”

3)
Im Zusatzartikel 17 des Hochschulgesetzes wird erklärt, daß jedwede Kleidung beim Besuch von Hochschulen erlaubt ist, es sei denn die Kleidung verstoße gegen ein bestehendes Gesetz. Die AKP wollte diesen Zusatzartikel um eine ausdrückliche Erlaubnis des Tragens von Kopftüchern, soweit sie das Gesicht freilassen und unter dem Kinn zusammengehalten sind, erweitern. Sie kam mit diesem Gesetzesvorhaben aber nicht durch.

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Türkische Quellen:
Zitate aus der Anklageschrift: Hürriyet 16.03.2008: http://www.hurriyet.com.tr/gundem/8468722.asp
Der gesamte Text der Ankageschrift hier als WORD-Dokument [2018: Link offensichtlich nicht mehr aktiv]
Wortlaut der Grundgesetzartikel und ihrer Änderungen, Wortlaut des Zusatzartikels 17 des Hoschschulgesetzes und seiner geplanten Änderung: Stargazete 06.02.2008 [2018: Link nicht mehr aktiv]
Deutsche Quellen:
WELT 05.06.08
Die Neue Ordnung 1/2006

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