Freitag, 6. Juli 2018

Chrestomathia Erdoganica (5) - "Ich habe mich verändert"

von Corax
zuerst veröffentlicht am 07.05.2008 auf Kewils Blog "Fakten Fiktionen"

Nach dem Verbot der Tugendpartei im Jahre 2001 gründete Erdogan mit politischen Freunden am 14. August 2001 die AKP, die "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung", die sich von den islamistischen Vorgängerparteien absetzte.

Und Erdogan setzte sich von seinem Vorgänger-Ich ab, beteuernd: "Ich habe mich verändert."

Aber nicht jedem erschien diese Wandlung glaubhaft. Erst recht, als eine Woche nach der Parteigründung eine sieben Jahre alte Parteirede Erdogans auftauchte, in Fernsehen und Presse verbreitet wurde und der Öffentlichkeit die Radikalität seiner damaligen schariatischen Agenda ungeschminkt vor Augen führte (dokumentiert in Chrestomathia Erdoganica 4). Die Frage, die sich viele Türken bis heute stellen: Ist diese alte Agenda weiterhin aktuell, oder haben sich Erdogan und seine Mitstreiter wirklich gewandelt? Gibt es einen Geheimplan zur Errichtung eines Schariastaates, oder ist Erdogans AKP doch nur eine harmlose wertkonservative Partei im demokratischen Graubereich? Sieht Erdogan weiterhin in der Demokratie eine Straßenbahn, aus der man aussteigt, wenn man sein Ziel erreicht hat, oder ist er jetzt zum Straßenbahnführer mutiert, der penipel Fahrplan und Straßenverkehrsordnung einhält?

Der Journalist Hasan Cemal (von dem wir im ersten Teil dieser Chrestomathie schon eine frühere Kolumne übersetzt haben) schrieb dazu am 29. August 2001, also zwei Wochen nach der Gründung der AKP, folgende Kolumne in der Milliyet:

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Hat sich Tayyip Erdogan nun verändert oder nicht?

von Hasan Cemal [Übersetzung: Corax]

Der zweiwöchige Urlaub ist nun auch vorüber, aber das Thema ist noch immer aktuell. Hat sich Tayyip Erdogan verändert oder nicht? Betreibt er Takiyya oder nicht? Angenommen er hat sich verändert, warum gibt er aber dann auf manche Fragen keine Antworten? Angenommen er betreibt keine Takiyya, warum kritisiert er dann nicht seine Vergangenheit? Begnügt er sich damit, einfach nur zu sagen: "Ich habe mich verändert"?
Etwa weil es ihm einfach zum Hals heraushängt?
Nein.
Recep Tayyip Erdogan ist kein gewöhnlicher Bürger. Er hat die politische Bühne betreten, um die Türkei zu regieren. Deshalb hat er die AKP gegründet und sich an ihre Spitze gestellt.
Aber falls er sich verändert hat, so tut er doch überhaupt nichts, um zu erklären, warum und wie er sich verändert hat. Er weicht weiterhin den Fragen aus. Dabei hat er mich quasi als seinen Referenzpunkt herangezogen. Als ich im Urlaub war, sagte er in einem Interview, das er Tuncay Özkan im Flugzeug gab, folgendes:

"Ist Hasan Cemal derselbe Hasan Cemal wie im Jahr 1968? Hasan Cemal hat sich verändert, und ich soll mich nicht verändert haben? Auch ich habe mich verändert. Für den Menschen ist das Alter von 40 Jahren das Alter, in dem er zur Reife gelangt. Es ist das Alter, in dem man die Dinge vernünftiger betrachtet und sich nicht mehr von seinen Gefühlen abhängig macht. Auch ich bin in meinem Leben an diesen Punkt gelangt. Und dabei habe ich mich natürlich auch verändert."
Das sagte Tayyip Erdogan.

Ja, ich habe mich verändert.
Nach dem Militärputsch vom 12. März [1971], also vor 30 Jahren, begannen sich meine politischen Ansichten zu ändern.
Zuvor hatte ich die Demokratie nicht gut gefunden.
Seitdem glaube ich, daß die Mehrparteiendemokratie der einzige Ausweg ist. Aber ich begnügte mich nicht damit, nur zu sagen: "Ich habe mich verändert." Ich setzte mich hin und schrieb ein Buch darüber. Ich erklärte, warum und wie ich mich verändert hatte. Ich legte die Fehler dar, die ich in der Vergangenheit gemacht hatte. Ich bemühte mich, alles eins ums andere durch das Sieb der Kritik gehen zu lassen. Ich bemühte mich, zu den geistigen Quellen dieser Veränderung vorzustoßen.
Ich schrieb dies in der Hoffnung, daß es für spätere Generationen eine Lehre darstellen könnte. Ich verarbeitete die Veränderung meiner politischen Persönlichkeit in einem Buch, um einen kleinen Beitrag zur Entwicklung der in diesem Lande sehr ungenügenden demokratischen Kultur zu leisten.

Gut, und was tut Erdogan?
"Ich habe mich verändert!"
Und einige verschwurbelte Erklärungen.
Das ist schon alles.
Daher kann er auch nicht überzeugend sein. Der Verdacht, daß er Takiyya betreibt, wird dadurch verstärkt. Und dann gibt es noch die Aussagen, die er 1994, 1995 und 1996 gemacht hatte, von denen es Tonband- oder Videoaufzeichnungen gibt.
Wenn jemand erst gestern solche Worte geschwungen hat und heute die politische Bühne, mit dem Anspruch betritt, die Türkei zu regieren, fragt man ihn natürlich, was das alles zu bedeuten hat.
Die Vergangenheit eines Politikers wird hinterfragt. Ein Politiker muß über seine Vergangenheit Rechenschaft ablegen. Und erst recht die Vergangenheit eines Mannes wie Tayyip kann nicht geheim und versteckt bleiben.

1995 [in Wirklichkeit 1994]:
Auf der Eröffnungsveranstaltung [eines neuen Parteigebäudes] des Ümraniye-Ortsverbands der Wohlfahrtspartei sagte er:
- "Zu sagen, daß die Souveränität bedingungslos der Nation gehört, ist eine kolossale Lüge!"
- "Die Souveränität besitzt definitiv Allah."
- "Andauernd sagen sie: 'Der Laizismus geht verloren!' Wenn diese Nation es so will, wird der Laizismus selbstverständlich verloren gehen. Da kann man nichts dagegen tun."
- "Die Welt des Islams mit seinen anderthalb Milliarden Menschen wartet darauf, daß die Muselmanische Türkische Nation sich erhebt. Wir werden uns erheben. Das Licht ist schon wahrnehmbar. Diese Auferstehung wird beginnen."
Diese Worte sind sechs Jahre alt.

14. Juli 1996:
In der Milliyet erscheint ein Interview mit Tayyip Erdogan, das Nilgün Cerrahoglu auf Band aufgenommen hatte.
Frage: "In dem Interview, das ich mit Abdullah Gül gemacht hatte, hatte er gesagt: 'Wenn wir an die Regierung kommen, werden Gesetze, die dem Islam widersprechen, abgeschafft.' Wird das so kommen?"
Tayyip Erdogan: "Die Wohlfahrtspartei ist nicht die Religion. Sie ist nicht mit dem Islam gleichzusetzen. Aber ihre Referenz ist der Islam. Wir wollen nichts tun und nichts leben, was unserer Referenz zuwiderläuft."
Frage: "Werden Gesetze, die Ihrer Referenz zuwiderlaufen, abgeschafft werden?"
Tayyip Erdogan: "Natürlich. Auch die Gesetze sind menschengemacht."
Im selben Milliyet-Interview sagte er:
"Bislang ist noch keine Partei aufgetreten, die die Demokratie so versteht wie wir, die sie so lebt und sich anstrengt, sie so zu beleben, wie wir. Aber ist die Demokratie Ziel oder Mittel? Nun, hier haben wir eine andere Auffassung. Wir sagen, die Demokratie ist ein Mittel. Die Demokratie ist kein Ziel."

Sollen wir jetzt keine Fragen stellen dürfen?
Wollten Sie ein schariatisches System? Wollten Sie, daß in staatlichen Angelegenheiten die Regeln der Religion gelten? Haben Sie sich gegen die Gleichheit von Mann und Frau im dem Erb- und Handelsrecht ausgesprochen? Haben Sie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, welche ein Grundstein der laizistischen demokratischen Republik darstellt, angegriffen? Haben Sie die osmanische Epoche zurückersehnt?
Haben Sie Atatürk nicht geliebt?
Waren Sie von der Revolution Chomeinis begeistert?
Haben Sie geplant, eine ähnliches System wie im Iran in der Türkei über die Wahlurnen zu errichten? War das der Grund, warum Sie gesagt haben: "Die Demokratie ist kein Ziel, sondern ein Mittel"? Haben Sie die Demokratie als Zwischenstation betrachtet?

War das der Grund, warum sie gesagt haben: "Meine Referenz ist der Islam, alles was ihm widerspricht, wird sich ändern!"?

Verehrter Tayyip Erdogan,
Wenn Sie noch vor sieben Jahren so gedacht hatten und sich jetzt verändert haben, sollten Sie wenigstens all diese und ähnliche Fragen im Fernsehen eine nach der anderen ehrlich beantworten und mit Leuten diskutieren, die es anders sehen als Sie.
Schauen Sie, ich habe mich auch nicht damit begnügt, ein Buch zu schreiben. Ich bin in öffentlichen Veranstaltungen und vor Fernsehkameras aufgetreten und habe mich bemüht, die Fragen von Leuten zu beantworten, die böse auf mich waren. Einmal hatten sie mich bis Mitternacht in "Hulkis Walnußschale" [eine TV-Sendung] fast gekreuzigt. Aber ich bin ihren Fragen trotzdem nicht aus dem Weg gegangen.
Und was ist mit Ihnen?
Sie setzen alles daran, die Türkei zu regieren, verbergen aber Ihre Vergangenheit. Das geht nicht, indem man einfach nur sagt: "Ich habe mich verändert!"
Sie können nicht damit überzeugen, wenn Sie nur sagen "Hasan Cemal hat sich doch auch verändert; habe ich dann nicht auch ein Recht, mich zu verändern?" Wenn man keine Rechenschaft für das abgeben kann, was vor fünf, sechs Jahren war, werden die Leute einen fragen:
"Hast du Angst vor deiner Vergangenheit?
Oder scheust du dich davor, zu lügen?"

* * *

Soll das ein Gedankenpolizeiverhör werden?
Keineswegs.
Ich glaube daran, daß Menschen sich verändern können. Ich bin dafür, daß jeder so offen wie nur möglich seine Gedanken verteidigen kann. Und ich bin auch dagegen, daß Menschen wegen ihrer Gedanken ins Gefängnis geworfen werden. So hatte ich auch kritisiert, daß Tayyip Erdogan wegen eines Gedichts ins Gefängnis gehen mußte und mit einem lebenslänglichen Politikverbot bestraft wurde.
In Demokratien darf es keine "Gedankenverbrechen" geben.
Aber noch etwas anders darf es in Demokratien auch nicht geben: Personen, die die politische Bühne betreten, um das Land zu regieren, dürfen, von ihrem Privatleben abgesehen, keine Geheimnisse haben. Denn Offenheit und Transparenz sind das Siegel der Demokratie.

Verehrter Tayyip Erdogan,
Wenn Sie sagen, daß Sie sich verändert haben, und wenn Sie in der Politik überzeugend sein wollen, dann warten die Menschen vor den Fernsehbildschirmen auf Sie. Weichen Sie den Fragen nicht aus. Kommen Sie und geben Sie Antwort. Sprechen Sie mit Menschen, die anders denken als Sie; sprechen Sie mit Menschen, die böse auf Sie sind; diskutieren Sie mit Ihnen.
Versuchen Sie's!

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Quelle (türkisch): Milliyet vom 29.08.2001

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