Donnerstag, 12. Juli 2018

Chrestomathia Erdoganica (8) - Demokratie, Demokratie, Demokratie

von Corax
veröffentlicht am 12.06.2008 auf Kewils Blog "Fakten Fiktionen"


-----------

"Atatürk hat gesagt, dass alle Souveränität dem Volk gehört. Die EU verlangt von uns demokratische Grundregeln des Zusammenlebens. Was wir wollen, ist nichts anderes: Demokratie, Demokratie, Demokratie."
Suat Kilic, AKP-Parlamentsabgeordneter (ZEIT 15.05.2008)


"'Die Souveränität gehört bedingungslos der Nation.' Schaut! Das ist eine Lüge. Eine kolossale Lüge. [...] Schaut, denkt gut darüber nach. Sie gehört der Nation, wenn sie wohin geht? Wenn sie zur Wahlurne geht. Aber im Materiellen wie im Geistigen gehört die Souveränität bedingungslos Allah."
Erdogan 1994

Nachdem der Generalstaatsanwalt Yalçinkaya beim Verfassungsgericht einen Verbotsantrag gegen die AKP und führende AKP-Politiker eingereicht hatte, hielt Erdogan in den folgenden Tagen auf mehreren Parteikonkressen in der anatolischen Provinz Reden, in denen er die eingeleiteten Schritte gegen seine Partei und seine Person wortmächtig verurteilte.

Von vielen dieser Reden, über die die türkische Presse natürlich ausführlich berichtet hat, und die der türkische Fernsehzuschauer in Auszügen ins Wohnzimmer übertragen bekam, gibt es Videodokumente auf Youtube. Im folgenden bringe ich die Übersetzung einiger dieser Videodokumente. Es lohnt sich, auch wenn man kein Türkisch versteht, sich einmal eines dieser Videos anzuschauen, um zu sehen, wie es dem begnadeten Redner Erdogan gelingt, wahre Begeisterungsstürme bei seinen Zuhörern auszulösen. Erdogan tritt in der Pose eines Volkstribuns, des Advokaten der Demokratie, des Anklägers der Feinde des Volkes, ja eines Siegers über diese Feinde auf.

*

SIIRT

Die erste Rede hielt Erdogan am 15. April 2008, unmittelbar einen Tag nach dem Verbotsantrag, auf einem Kongreß des örtlichen AKP-Frauenverbands in Siirt, der Heimatstadt seiner Frau Emine, derselben Stadt, in der er 1997 während einer Rede die berühmten Minarettenverse rezitierte, die ihn dann ins Gefängnis brachten.

erstes Youtube-Video:

An bedeutsamen Tagen sind wir immer in Siirt. So auch jetzt. Heute ist das fünfte Jahr [meiner Ministerpräsidentenschaft]

Eine andere bedeutsame Entwicklung hat, wie ihr wißt, gestern abend begonnen. [Das Publikum skandiert: "Die Hände, die sich gegen die AK Partei ausstrecken, sollen gebrochen werden"]

[die Sprechchöre unterbrechend] Liebe Geschwister, liebe Geschwister, wie ihr wißt, sind wir eine Partei, die einen demokratischen Kampf führt. Wer einen demokratischen Kampf führt, der hat mit dem Brechen von Armen, mit dem Brechen von Händen, mit dem Brechen von Beinen nichts zu tun. Wer einen demokratischen Kampf führt, wird die größte Lehre an der Wahlurne erhalten, an der Wahlurne! [Jubel]

In diesem Land kann niemand die AK Partei, der 16 Millionen 500 Tausend Wähler im Glauben, daß diese Partei sich für einen demokratischen, laizistischen, sozialen Rechtsstaat* einsetzt, ihre Stimmen gegeben haben, zu einer Brutstätte des Laizismus erklären [verbessert sich] zu einer Brutstätte der Anti-Laizismus erklären. [Jubel, Sprechchöre]

Über eines müssen wir uns im Klaren sein: Das gestrige Ereignis war kein Schritt, der gegen die AK Partei unternommen wurde. Das gestrige Ereignis war ein Schritt, der gegen den nationalen Willen unternommen wurde, den nationalen Willen! [Sprechchor: "Die Hände, die sich gegen die AK Partei ausstrecken, sollen gebrochen werden"]

[Erdogan: beschwichtigende Handgeste, Kopfschütteln] Ihr jungen Leute, was ich gerade eben gesagt habe, danach werden wir uns richten. Danach werden wir uns richten. Und in unserem Land wird jeder, wenn er Erfolg erringt, ihn innerhalb der Demokratie erringen; und wenn er nicht erfolgreich ist, wird ihn der nationale Wille an der Wahlurne abstrafen und absetzen. So läuft das. [Applaus]

Jedes Wort, das wir, als wir im Jahre 2002 das Amt antraten, gegeben haben, jedes Ziel, das wir gesetzt haben, ist heute, Gott sei Dank, zu einem großen Teil erfüllt. [Applaus, Jubel] Die Türkei hat sich Schritt für Schritt von den schweren Krisenbedingungen, unter denen es gelebt hat, weg bewegt und steht nun einer gesunden, stabilen, dynamischen wirtschaftlichen Struktur gegenüber.

Jene dunkle Zeiten, in denen wir uns jeden Tag verschuldet hatten, jeden Tag wirtschaftlich schwächer wurden, jeden Tag dem Abgrund ein Stück näher kamen, sind zu Ende, liegen hinter uns. [Sprechchöre]

Die Türkei ist während der 23. Legislaturperiode [der derzeitigen AKP-Regierungsperiode] zu einem Land geworden, das immer weiter wächst, das jeden Tag Errungenschaft auf Errungenschaft erzielt, das die verlorenen Jahre langsam wieder zurückholt. Nicht nur Siirt, nicht nur Mardin, nicht nur Konya, nicht nur Kayseri, sondern alle 81 Provinzen der Türkei sind in eine Mobilmachung des Aufschwungs getreten. [Jubel, Applaus]

All unsere Dörfer leben auf, All unsere Wege sind erleuchtet. Dieses Bild erfüllt uns alle mit Freude, macht uns alle glücklich. Denn als die Türkei damals jene schweren Krisen durchmachte, war sie unter Regierungen, die die Sorgen dieser Nation nicht teilten, jeden Moment mit ihrer Angst allein gelassen, Tage zu verlieren - und wir haben viele Tage verloren. Andauernd gingen sie unserer Zukunft verloren. Die, die unser Land regiert hatten, ließen uns mit unseren Nöten, unserer Armut, unserer Ausweglosigkeit - jawohl, erinnert euch daran - allein, und fügten der Zukunft unserer Kinder Schaden zu. Unsere jungen Leute schauten voller Angst auf ihre Zukunft, waren von der ständigen Sorge bedrängt, wie sie ihr Leben fristen sollten. Ihre Hoffnung drohte zu versiegen. [Sprechchöre] Sie waren an den Punkt gelangt, wo sie sich für ihr Land, für ihre Lieben, für ihre Gesellschaft keine Träume mehr ausmalen konnten.

Doch jetzt ist unsere Gegenwart und hoffentlich auch unsere Zukunft, Gott sei dank, [emphatisch] von diesen abgewirtschafteten Krämern befreit. [Jubel, Sprechchöre]

Die Hoffnung ist wieder zurückgekehrt in die Augen unserer Kinder, die Zukunftsbegeisterung ist wieder in ihre Herzen eingekehrt. Denn die AK Partei ist an die Regierung gekommen. Die AK Partei ist aus den Forderungen dieser Nation nach Gerechtigkeit hervorgegangen. Die AK Partei ist keine Partei, die gegründet wurde, weil sie auf dem persönlichen Vorteil von Ahmet, Mehmet, Hasan und Hüseyin beruht. [emphatisch] Es war die Nation, die die Gründung der AK Partei beschlossen hat. Ihr habt es beschlossen! [Jubel, Sprechchöre]

Die AK Partei wurde aus dem Gewissen, aus der Vernunft dieser Nation geboren. Unsere Nation hat die AK Partei umarmt. Und die AK Partei hat unsere Nation umarmt. [Jubel] Wir haben keine Keile zwischen unsere Städten getrieben. Wir sind nicht zu einer Partei und einer Regierung für irgendwelche bestimmten Gruppen, für irgendwelche auf ihren Vorteil bedachten Kreise geworden. Wir haben die Türkei als Ganzes geliebt, und so werden wir sie auch weiterhin, bis zu unserem letzten Atemzug, lieben. [Jubel]

Liebe Mitbürger, was hatten wir gesagt, als wir uns auf den Weg machten? [Sprechchöre] Liebe Mitbürger, was hatten wir gesagt, als wir uns auf den Weg machten? Erinnert euch! Was hatten wir gesagt, [emphatisch] mit den Worten des Asik Veysel**? Veysel, das habt ihr vergessen, hat gesagt: [emphatisch rezitierend] "Wir sind auf einem langen, schmalen Weg, wir gehen Tag und Nacht." Das haben wir gesagt. [Jubel] Ja, wir sind auf einem langen, schmalen Weg, den werden wir gehen, Tag und Nacht. [mit äußerst kraftvoller Stimme, wie gegen einen Orkan anredend, und großen Jubel auslösend] Die Bedingungen mögen sein, wie sie wollen, ob bitterer Winter, ob Sturm, ob Orkan, Tag und Nacht werden wir diesen Weg gehen, werden wir diesen Weg im Dienst für das Volk gehen; niemand wird die Kraft haben, uns von diesem Weg abzubringen; diese Reise wird weitergehen.

Vergeßt nicht, vergeßt nicht: [emphatisch] Wie Siirt das Licht unseres Auges ist, so ist auch Sivas das Licht unserer Augen. Wie wir Isparta lieben, so sehr lieben wir auch Afyonkarahisar. Wie wir Hakkari, Van, Bitlis, Mus und Diyarbakir in unserem Herzen einen bedeutsamen Platz geben, ja, wie sie alle unser Leib und Leben sind, so sind auch Izmir, Baliksehir, Kütahya, Zonguldak unser Leib und Leben. [Jubel] Wir brachen mit der Bereitschaft auf, für die ganzen 780 Tausend Quadratkilometer dieser Erde unser Alles dreinzugeben. Deshalb, das müßt ihr bedenken, hat einzig die AK Partei es geschafft, aus ganzen 80 von den 81 Regierungsbezirken Abgeordnete zu entsenden. [Jubel]

Wir sind die einzige Partei, die von jeder Schicht der Gesellschaft Stimmen bekommen hat. Denn wir sind die Partei, die sich mit dem Volk vereint hat. [mit lauter orkanhafter Stimme] Wir sind die einzige Partei, die den Charakter und die Persönlichkeit aufweist, einen demokratischen, laizistischen, sozialen Rechtsstaat aufzubauen. So haben wir uns auf den Weg gemacht, so sind wir aufgebrochen. [Jubel] Die Bemühungen, auf dieses unser Werk einen Schatten zu werfen, sind umsonst. Sie fruchten nicht. [emphatisch zitierend] 'Man kann die Sonne nicht mit Lehm verputzen' [Sprichwort im Sinne von: "man kann die Wahrheit nicht verdunkeln"], das sollte man wissen. Und... meine lieben Geschwister, die heiligen Seelen unserer Märtyrer/gefallenen Helden [das türkische Wort kann beides bedeuten] haben diese unsere Städte, diese unsere Erde zu einer gemeinsamen [hier endet die Videoaufzeichnung. Das folgende nach der Dokumentation auf Iki Dakika] Heimat gemacht. Diese Einigkeit, diese Brüderlichkeit werden wir mit Allahs Hilfe niemandem zum Fraß überlassen.

Wir erachten die 70 Millionen Kinder dieser Heimat, jeden Einzelnen, der ein Bürger der Republik Türkei ist, als unsere Brüder, als unser Leib und Leben. Als deren Diener üben wir dieses Amt aus.

"In unserem Land ist das Marmaragebiet anders, der Westen anders, das Mittelmeergebiet anderes, das Ägäisgebiet anders, Mittelanatolien anders, der Mittelanatolien anders, der Südosten anders, der Osten anders, das Schwarzmeergebiet anders..." In unserem Wörterbuch kommt dergleichen nicht vor. Der Dienst, den wir dem Westen erweisen, erweisen wir auch dem Osten. Den Dienst, den wir dem Norden erweisen, erweisen wir auch dem Süden.

Und deshalb, paßt gut auf, haben wir hier in den letzten fünf Jahren, hört gut zu liebe Geschwister, ungefähr 8,5 Billiarden nur für den Südosten und den Osten aufgewendet. Erforscht die 79 Jahre [von der Republikgründung 1923 bis zum Regierungsantritt der AKP 2002] und schaut: ihr werdet solche Zahlen nicht finden. Und alles beginnt, sich zu verändern. Ihr seht es, nicht wahr? Und es wird sich weiter verändern.

[Erdogan sagte darauf, daß mit diesen 8,5 Billiarden Lira auch 46 Tausend Häuser gebaut würden, die großenteils in Privatbesitz überführt werden sollten und fuhr weiter fort:]

Warum tun wir das? Wir wollen, daß sich unsere Städte verändern, daß sie sich verschönern. Daher haben wir diese Schritte unternommen, daher unternehmen wir diese Schritte. Schaut, liebe Geschwister; jetzt haben wir das Südostanatolien-Projekt begonnen, wir machen da weiter, wo man aufgehört hatte. Für dieses Projekt wenden wir 12 bis 15 Billiarden auf. Unser Ziel ist es, dieses Projekt inschallah in 5 Jahren zum Abschluß zu bringen.

Wir werden inschallah den Silvan- und den Cizre-Staudamm, wir werden inschallah Bewässerungskanäle, Beregnungs- und Bewässerungsanlagen bauen. Wir werden die halbfertigen und unvollendeten Straßen, zweispurige Straßen und Autobahnen, in diesen Gegenden fertigbauen.

[Erdogan sagte weiter, man wolle die 780 Kilometer lange minenverseuchte Gebiet an der syrischen Grenze von den Minen säubern und, falls möglich, für biologische Landwirtschaft nutzen. Dann sagte er:]

Alle haben bis heute nur Worte gemacht, die Regierung der AK Partei aber hat Arbeit geleistet und leistet weiterhin Arbeit. Für uns gibt es keinen Aufschub von Versprechungen. In unseren Grundsätzen kommt das nicht vor.


Fußnoten:
*) In Artikel zwei des türkischen Grundgesetzes wird die Republik Türkei wörtlich als "demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat" definiert.
**) Der Alevit Asik Veysel (1894-1973) gilt als der letzte große türkische Volksdichter und -sänger.


----------

zweites Youtube-Video:

So wie dieser unglückselige Schritt der rechtlichen Grundlage entbehrt, so hat er auch im Gewissen der Nation keinerlei Legitimität. Die, die unsere Nation, obwohl sie das nicht verdient hat, mit solch einer Abwegigkeit, solch einem Schimpf konfrontieren, werden sich aus der Scham darüber nicht mehr retten können. [Applaus, Jubel]

Meine liebe Nation möge sich beruhigen. Wir werden uns der Vertretungsmacht, die ihr uns am 22. Juli [2007, Wahlsieg der AKP] gegeben habt, bis zum Ende widmen. Wir werden nicht zulassen, daß die Errungenschaften, die die Türkei nach langen Jahren jetzt erzielt hat, daß die Sicherheit und die Stabilität zerstört werden.

Tag und Nacht arbeiten wir daran, die Türkei dem Ziel der modernen Zivilisation, welches Atatürk gesetzt hat, näherzubringen; wir bemühen uns, den Lebensstandard unseres Volkes zu erhöhen; - und da kommen welche daher und wollen die Errungenschaften unserer Nation mit einem Schlag zunichte machen? [Applaus] Eine größere Verantwortungslosigkeit kann es nicht geben.

Jeder - jeder sollte gut wissen, daß er für den Schaden, den er dieser Nation, diesem Land zufügt, büßen wird. Werte Geschwister, die Türkei wird den Marsch für Demokratie, den Marsch für Gerechtigkeit und Aufschwungs, den Marsch zur Förderung der Rechte und Freiheiten ohne Zögern fortsetzen.

Schaut, weiterhin sind wir zu einem neuerlichen demokratischen Schritt bereit. Ein Projekt, das wir als die Türkei eigentlich viel zu spät in Angriff nehmen, das schon vor 10 Jahren hätte begonnen werden müssen, werden wir in den kommenden Monaten in die Wege leiten.

Die Türkische Radio und Fernsehgesellschaft hat mit den Arbeiten für einen mehrsprachigen Kanal begonnen, der über Satellit überall in der Welt empfangen werden kann, der aber im besonderen die türkeinahen Gebiete des Irak und des Iran ansprechen wird. Dieser neue Kanal, der auf Kurdisch, Arabisch und Persisch ausgestrahlt werden soll, wird 24 Stunden ununterbrochen auf Sendung sein. [Applaus] Dieser neue Kanal, der Anfang 2009, wenn möglich auch zu einem früheren Zeitpunkt, auf Sendung gehen wird, wird nicht nur in der Türkei, sondern in einem weiten geographischen Bereich, hauptsächlich im Nahen Osten, zu empfangen sein.


*

BATMAN

Nach seinem Auftritt in Siirt flog Erdogan in die unweit gelegene Stadt Batman und redete vor einem Kongress der AKP-Parteijugend. Hier Redepassagen, wie sie in der Hürriyet zitiert wurden:
"Genau wie der Volkssänger Veysel sagten wir: 'wir sind auf einem langen schmalen Weg, wir gehen Tag und Nacht.' Seitdem sind etwa sechseinhalb Jahre vergangen. Wir sind auf einem langen, schmalen Weg marschiert. Vor uns tauchten Hindernisse auf, taten sich Schluchten auf, all das haben wir überwunden. Sie werden auch später wieder auftauchen, und wir werden sie wieder überwinden. Denn am 22. Juli haben 16 Millionen 500 Tausend Wähler der AKP ihre Stimme gegeben. Schauen Sie, ich rede nicht von den Familien [mit ihren Kindern], ich rede nur von den Wählern. Kann es sein, daß man den Willen von 16 Millionen und 500 Tausend Menschen mißachtet, kann es so was geben?"

"Was ist das für eine Einstellung, was ist das für ein Verständnis? Man kann nicht ständig das Volk dazu nötigen, die Rechnung derer zu bezahlen, die nicht zu verantwortungsvollem Handeln in der Lage sind. Die, die einen Schatten auf die demokratische Gesinnung, auf das demokratische Ansehen der Türkei werfen, die die nach schwerem Ringen erreichte politische und ökonomische Stabilität geschlossenen Auges aufs Spiel setzen, werden auch die Strafe dafür davontragen. Sie können ihr nicht entkommen. Was für Notlagen hat diese Nation bestanden! Was für einen Preis hat sie für die demokratischen Errungenschaften bezahlt! Sie erhob sich aus den Trümmern der ökonomischen Krisen und ist bis hierher gekommen. Niemand kann dieser Nation ein solches Unrecht zumuten. Das Recht kann nicht auf Mißachtung des Volkswillens errichtet werden. So wie dieser unglückselige Schritt der rechtlichen Grundlage entbehrt, so entbehrt er auch im Spiegel des Gewissens der Nation jeglicher Legitimität. Die unsere Nation, obwohl sie das nicht verdient hat, mit solch einer Abwegigkeit, solch einem Schimpf konfrontieren, werden sich aus der Scham darüber nicht mehr retten können. Ihr seht selbst, wie wir uns der Vertretungsmacht widmen, die ihr uns am 22. Juli an den Wahlurnen gegeben habt. Wir werden uns ihr bis zum Ende widmen."


Hier wird Erdogan von seinen Zuhörern unterbrochen, die in Sprechchören skandieren:

"Schlag zu, schlag zu, bis er stöhnt, Deniz Baykal soll hören"


(Deniz Baykal ist der Vorsitzende der kemalistischen CHP.) Daraufhin sagte Erdogan beschwichtigend:

"Nicht nötig. Es gibt Menschen, die haben Ohren und hören nicht, die haben Augen und sehen nicht, die haben Zungen und sprechen die Wahrheit nicht. Nicht nötig."


Diese Worte wurden von der türkischen Presse als Zitat aus dem Koranvers 7,179 identifiziert, der folgendermaßen lautet:

"Wir haben viele der Dschinn und der Menschen erschaffen, deren Ende die Hölle sein wird! Sie haben Herzen, und sie verstehen nicht; sie haben Augen, und sie sehen nicht; sie haben Ohren, und sie hören nicht. Sie sind wie das Vieh; ja sie sind weit ärger abgeirrt. Sie sind fürwahr unbedacht."


Während derselben Rede rezitierte Erdogan auch die Strophe eines türkischen Liebeslieds, um die liebende Verbundenheit von Volk und Partei, oder vielleicht eher zwischen dem Volk und ihm selbst, Ausdruck zu verleihen. Nach jedem rezitierten Vers wiederholt die Zuhörerschaft im Chor den Vers. Der letzte Vers wird dreimal rezitiert:

Erdogan: Wir wanderten gemeinsam auf diesen Wegen.
Chor der Zuhörer: Wir wanderten gemeinsam auf diesen Wegen.

Erdogan: Wir wurden gemeinsam naß im Regen.
Chor der Zuhörer: Wir wurden gemeinsam naß im Regen.

Erdogan: In allen Liedern, die ich jetzt höre,
Zuhörer: In allen Liedern, die ich jetzt höre,

Erdogan: Erinnert alles uns an euch.
Zuhörer: Erinnert alles uns an euch.

Erdogan: Erinnert alles uns an euch.
Zuhörer: Erinnert alles uns an euch.

Erdogan: Erinnert alles uns an euch.
Zuhörer: Erinnert alles uns an euch.


Die beiden Passagen, die Sprechchöre und die darauffolgende Rezitation der Koranstelle sowie die gemeinsame Rezitation des Liebesgedichts, liegt als kleiner Videoclip auf Youtube.

Diese Gedichtstrophe scheint innerhalb der Erdogan-Bewegung schon länger eine Rolle zu spielen. Sie wurde nämlich, in abgewandelter Form, bereits im Jahre 1998 von Erdogan-Anhängern gesungen, als sie zu Tausenden vor dem Istanbuler Rathaus gegen die Verurteilung Erdogans protestierten, wie in Chrestomathia Erdoganica (3) festgehalten. Damals sangen sie:

"Wir wanderten gemeinsam auf diesen Wegen. Wir wurden gemeinsam naß im Regen. Jetzt geht's der Ministerpräsidentenschaft entgegen."


Erdogan ist ein begnadeter Redner, der stimmlich alle Register ziehen kann und seine Zuhörer magisch in Bann zu ziehen scheint. Und er benutzt immer wieder auch Gedichte. Es gibt einen längeren Essay über Erdogan, in dem gerade auf seine Kunst des Gedichtvortrags eingegangen wird.

Das Gedicht, aus dem Erdogan zitierte, ist kein politisches Gedicht, es ist ein reines Liebesgedicht, das auch vertont ist, also ein Liebeslied. Hier der vollständige Liedtext:

Ich bin umringt von Erinnerungen.
Überall, wohin ich blicke, sind deine Spuren.
Selbst wenn ich nicht an dich denken wollte,
Erinnert alles mich an dich.

Wir wanderten gemeinsam auf diesem Wegen.
Wir wurden gemeinsam naß im Regen.
In allen Liedern, die ich jetzt höre,
Erinnert alles mich an dich.

Wie die Sonne am Himmel an deine Augen,
Wie die aufgeplatzte Erde an meine Sehnsucht,
Wie jedes brennende Feuer an meine Liebe,
Erinnert alles mich an dich.

Wir wanderten gemeinsam auf diesen Wegen.
Wir wurden gemeinsam naß im Regen.
In allen Liedern, die ich jetzt höre,
Erinnert alles mich an dich.

Text: Askin Tuna, Melodie: Seluk Tekay


*

MALATYA

Anfang April hielt Erdogan einem Kongress der AKP-Parteijugend Malatya eine Rede. Auf Youtube existiert der Clip einer unverhüllt propagandistischen Nachrichtensendung dazu, in der man Erdogan, untermalt mit feierlicher Orchestermusik reden hören und sehen kann. Im folgenden die Übersetzung der Redeausschnitte:

"Wir sind nicht zum Streit gekommen, wir sind gekommen, um Güte zu bringen, wir sind gekommen, um Liebe zu bringen. Und das werden wir weiter tun. Wir gehören zu denen, die wissen, daß die Geduld grenzenlos ist. Wir sind eine Gruppe, eine Gesellschaft, die diejenigen, die an den Wahlurnen besiegt wurden, nicht mit undemokratischen Methoden bekämpft. Die AK Partei wird niemals ein Akteur mit antidemokratischen Methoden sein. Das müßt ihr wissen. Die AK Partei wird ihren Kampf immer mit demokratischen Methoden führen. [Erdogan ist ins Schwitzen gekommen, zieht die Jacke aus und fährt fort:] Wir werden diesen unseren Kampf fortführen für eine Türkei ohne Diskriminierung, für eine Türkei, in der die Demokratie herrscht, in der die Republik Türkei ein demokratischer, laizistischer, sozialer Rechtsstaat ist. Aber wir werden diesen Kampf genau so weiterführen, geradewegs, ohne nach rechts oder nach links abzuweichen."

"Am 14. August sagten wir mit den Worten Menderes': 'Das Wort gehört der Nation.' Aber wir fügten am selben Tag noch etwas hinzu, wir sagten: 'Das Wort gehört der Nation und die Entscheidung gehört der Nation'. Dies wird in die Geschichte als Basis, als Grundlage der Demokratie eingehen. Ja. In Demokratien gehört sowohl das Wort als auch die Entscheidung der Nation. Was die Nation sagt, das geschieht. Das müssen wir wissen und die, die es nicht wissen, die werden es lernen und werden es wissen. Es wird welche geben, die nicht hören, aber die Hörenden werden es den Nichthörenden erklären. Wir werden, alle Hindernisse überwindend, weitergehen. Die Geschichte ist dafür der offensichtliche Beweis. Die, die diesen Weg einschlugen, die sich auf diesen Weg verlegt haben, die im Dienst für das Volk vorangingen, sind immer mit Hindernissen konfrontiert worden. Viele Vorteilnehmer wollten Hindernisse aufbauen. Denn die Vorteilnehmer haben in der Nation keinen Platz. Sie sind in einem Teufelskreis gefangen."

"Sie hocken in Ankara und sind damit beschäftigt, anderen eine Grube zu graben. Sie denken: 'Wir haben keinen Dienst [an der Nation] geleistet, wir haben die Probleme des Landes nicht gemildert. Dann wollen wir wenigstens denjenigen, die [der Nation] dienen, Hindernisse in den Weg stellen.'"

"Sie wollen ihren eigenen Wahlstimmen ein anderes Gewicht geben als der Wahlstimme meines Mitbürgers aus einem anatolischen Dorf. Sie sind Kreise, die die Demokratie so sehr mißverstehen, daß sie diese Gleichheit in der Demokratie nicht sehen können. Und das Interessante dabei ist: Wenn du in diesem Land sagst: 'Wir werden eins sein, wir werden gemeinsam sein', wird dir vorgeworfen, daß du in die gefährlichste Trompete zur Spaltung der Gesellschaft bläst. Davon kann keine Rede sein! Davon kann keine Rede sein!"

Das Videodokument dieser Nachrichtensendung bringt auch einen Ausschnitt aus Erdogans Ansprache auf einem Kongreß für Unternehmer mit dem Titel "Brücke für den Aufschwung und die Zusammenarbeit in Ostanatolien, 101 Projekte, 1001 Unternehmer" Dort sagte er:

"Wir sind erst am Anfang unserer Arbeit. Das Verfassungsgericht tut seine Arbeit, die 60. Regierung der Republik Türkei [die aktuelle AKP-Regierung] tut ihre Arbeit, das sollten Sie wissen. [soweit das Videodokument, die Internetzeitung NTV-MSNBC zitiert ihn weiter:] Das Ergebnis [des Gerichtsprozesses] mag sein wie es will, es interessiert uns nicht."


----------------

Quellen:

Rede in Siirt:
erstes Video: http://www.youtube.com/watch?v=8q2bhEwIDKA (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
zweites Video: http://www.youtube.com/watch?v=pHObtqJq__Y
(2018: Link ist nicht mehr aktiv)
Transskription eines größeren zusammenhängenden Redeausschnitts: http://www.ikidakika.com/demokrasi-artik-olmazsa-olmazdir/ (2018: Link ist nicht mehr aktiv)

Rede in Batman:
Zeitungsbericht: Hürriyet: http://www.hurriyet.com.tr/gundem/8466963.asp?gid=229&sz=70703
Kurzvideo: http://www.youtube.com/watch?v=Ef6oHKAO6bk (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
Rede in Malatya:
Video: http://www.youtube.com/watch?v=9hI9qG6rPn0 (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
Text auf AKP-Seite: http://www.akparti.org.tr/gnsayfa/haber.asp?haber_id=22899&kategori=8 (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
Ansprache Erdogans auf einem Kongress ostanatolischer Arbeitgeber in Erzurum: http://www.ntvmsnbc.com/news/441842.asp (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
Text des Gedichts "Ich bin umringt von Erinnerungen": http://www.birebir.net/goster.asp?d=beraber+yuruduk+biz+bu+yollarda (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
ZEIT 15.05.2008: http://images.zeit.de/text/2008/21/T-rkei3 (2018: Link ist nicht mehr aktiv)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen