Donnerstag, 5. Juli 2018

Chrestomathia Erdoganica (4) - Der Imam von Istanbul

von Corax
zuerst veröffentlicht 30.04.2008 auf Kewils Blog "Fakten - Fiktionen"


Erdogan hatte in jungen Jahren, als er noch Fußball spielte, den Spitznamen „Imam Beckenbauer”. Als er in den 90er Jahren Oberbürgermeister von Istanbul war, nannte er sich selbst „der Imam von Istanbul”. Er wurde diesem Namen gerecht, wie wir im folgenden sehen werden.

Im Juni 2001 wurde die Tugendpartei, die Nachfolgepartei der 1998 verbotenen Wohlfahrtspartei Necmettin Erbakans, ebenfalls verboten.

Danach kam es zu einer Spaltung oder Verzweigung: Es entstanden zwei neue Islamparteien: Die „Partei der Glückseligkeit”, die der islamischen Agenda auch nach außen hin treu bleibt, und die AKP, die sich gemäßigt, demokratisch, europafreundlich gibt.

AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi) bedeutet „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung”. Sie wird auch „AK Parti” genannt, was „weiße/reine Partei” bedeutet. Ihr Parteiemblem ist eine Glühbirne. Ein vielschichtiges Symbol. Die Glühbirne steht einerseits für „Aufschwung” (Wirtschaft), auch für „Aufklärung” (das türkische Wort für „Beleuchtung” hat auch die übertragene Bedeutung „Aufklärung”), aber es spielt auch, mehr oder weniger versteckt, auf die islamische Lichtmetaphorik an: das Licht Allahs.

Die AKP wurde von Erdogan am 14. August 2001 gegründet, etwa zwei Jahre, nachdem er seine Gefängnisstrafe wegen islamistischer Volksverhetzung verbüßt hatte. Erdogan beteuerte nun:

„Ich habe mich verändert”.

Eine Woche nach der Gründung der AKP strahlte der Fernsehsender Kanal D Videoaufnahmen einer Rede aus, die Erdogan sieben Jahre zuvor, Ende 1994, er war gerade neuer Oberbürgermeister von Istanbul,vor Parteimitgliedern anläßlich der Einweihung eines neuen Parteigebäudes gehalten hatte. Tags darauf, am 21. August 2001, brachten alle türkischen Mainstreamzeitungen Ausschnitte aus dieser Rede als große Sensation. (Die Milliyet titelte: „Sieben Jahre alte Worte, aber wie ein Erdbeben der Stärke sieben”.)

Also sprach der Imam von Istanbul:

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Das grüne Licht leuchtet schon

    Der erste November [Kommunalwahlen von 1994] ist der Name für einen Wendepunkt. Es ist nicht der Sieg. Der Sieg wird so nicht errungen. Wir sind noch immer auf dem Weg. Ich bin überzeugt: Das grüne Licht zeigt sich bereits. Aber ihr müßt wissen, bis dahin wird es noch viele Zeichen geben. Aber ich bin überzeugt: Der Sieg wird dank Allahs Güte früher oder später unser sein. Denn so ist die göttliche Offenbarung. Deren Zeichen sind zu sehen. (Quelle: Hürriyet)


Auferstehung der Muselmanischen Türkischen Nation

    Die Welt des Islams mit seinen anderthalb Milliarden Menschen wartet darauf, daß die Muselmanische Türkische Nation sich erhebt. Wir werden uns erheben. In diesem Moment zeigt sich das Licht dieser Erhebung. Diese Auferstehung wird mit Allahs Hilfe beginnen. Du mußt rennen, du mußt arbeiten. Wenn du keine Mühen auf dich nimmst, wird sie nicht kommen. Wenn eure Kinder, euer Besitz, eure Ehefrauen euch von dieser Sache, von dieser Anstrengung abhalten, braucht ihr auf diesen Sieg nicht zu warten, meine lieben Geschwister. Das mußt du überwinden. An dem Tag, an dem wir es überwunden haben, wird das Licht des Sieges uns nahe sein. Und dann wird Gott sein Licht vollenden. (Quelle: Hürriyet)


Das Drehbuch wird ausgetauscht

    Wird es wie in Algerien kommen? Nichts dergleichen wird passieren. Mit Allahs Hilfe kommen wir, indem wir sie beharrlich dazu bringen, sich anzupassen. Jetzt hat die Nation nicht mehr bloß ein Interesse daran, die Schauspieler, sondern auch das Drehbuch auszutauschen. Und diese Arbeit hier besteht darin, dieses Drehbuch auszutauschen. Wir können nicht die Beschützer dieses Systems sein. Denn dieses System ist tyrannisch. (Quelle: Radikal)


Die Feuerzange zur Abschaffung des Systems

    Sie suchen den Terror immer noch im Cudi-Gebirge. Sie suchen den Terror im Nordirak. Aber der Terror ist im Parlament, im Parlament, Menschenskind! Der Terror ist im Kabinett. Dort müßt ihr das Problem lösen. Liebe Geschwister, wenn eine Feuerzange da ist, werden wir nicht ins Feuer zu greifen. Deshalb werden diejenigen, die diese Gesetze gemacht haben, so Allah will, die Feuerzange zur Beseitigung dieses Systems sein. Inshallah. Ja, sie werden die Feuerzange dazu sein. Schaut, der Mensch macht selbst seinen Götzen, stellt ihn selbst auf, betet ihn selbst an, und dann wird er ihn auch selbst umstürzen.” (Quelle: Hürriyet)


Das Militär ist auf unserer Seite

    Das ganze Heer ist auf der Linie der Wohlfahrtspartei. Das behaupte ich. Unser Vorsitzender, der verehrte Erbakan, besuchte den Generalstab und die Befehlshaber der Streitkräfte. Sie drückten sich genau so aus: Wir denken wie Sie. Wir haben unser Militär zur Bewahrung der Unabhängigkeit dieser Nation. Nicht um Diener und Sklave der NATO zu sein. Es fehlt aber eine Autorität, die das zum Ausdruck bringt. So Allah will, wird diese Autorität mit dem Gerechten System kommen. (Quelle: Radikal)


Wir denken nicht daran, der EU beizutreten

    Sie schicken 100.000 Tonnen Weizen nach Armenien. Wer? Das derzeitige System. In Manavgat geben sie 90 Millionen Dollar für den Manavgat-Stausee aus. Für wen? Für Israel. Sie wollen Zypern weggeben. An wen? An die Griechen. Und sie hetzen sich jetzt ab, um der Europäischen Union beizutreten. Sie [die Europäer] denken aber nicht daran, uns in die Europäische Union aufzunehmen. Hmm! Auch wir denken auch nicht daran, ihr beizutreten. Denn der eigentliche Name der Europäischen Union lautet „Union der christlich-katholischen Staaten”. (Quelle: Hürriyet)


Auf Youtube gibt es ein Videoclip eines viereinhalbminütigen zusammenhängenden Ausschnitts aus der Rede. Hier der Redetext (das Video beginnt mit dem zweiten Satz. Der erste Satz ist Presse entnommen):

Die Souveränität gehört bedingungslos Allah

    Andauernd sagen sie: „Der Laizismus geht verloren, der Laizismus geht verloren!” Ja, wenn diese Nation es so will, wird der Laizismus selbstverständlich verloren gehen. [Applaus] Das ist nicht zu verhindern. Man kann diese Nation nicht mit Zwang unter Kontrolle halten. Der Nation zum Trotz läuft das sowieso nicht.

    Dann sagst du: „Was, um Gottes Willen, ist denn dieser Laizismus, definiere ihn!” Sie geben keine Definition. Sie sagen: „Nun, das ist überall verschieden.” Ja, was ist es denn nun? Also heute gibt es für jeden Begriff eine Definition im Wörterbuch. Und zu jedem Begriff, zu jedem Wort muß es eine Definition geben, die alle Einzelfälle umfaßt und alles, was nicht dazu gehört, ausschließt, damit jeder Begriff, jedes Wort seine Bedeutung, seinen Platz findet.

    Aber da kommt der Innenminister und sagt: „Der Staat ist für die Religion zuständig.” Und warum sagt er nicht den Rest? Er sagt nicht: „Die Religion ist für den Staat zuständig”.

    Gestern war ich in der Bogazici-Universität. Die jungen Leute scheinen sich dort schon ein bißchen inspirieren zu lassen, denn sie standen auf und verwendeten genau denselben Ausdruck: „Sagen Sie, verehrter Bürgermeister, was denken Sie über den Laizismus? Was wird geschehen? Es gibt Befürchtungen, daß der Laizismus verloren geht. Was wird geschehen?”

    Ich sagte den jungen Freunden folgendes: „Also, die Westler sagen doch: ‘Das Recht des Kaisers sei dem Kaiser, das Recht Gottes sei bei Gott’. Aber der Innenminister dieses Landes sagt: ‘Der Kaiser hat das Recht, Gott hat kein Recht.’ Ja nun! Mehr als 99 Prozent dieses Landes sind Muselmane!”

    Man kann nicht gleichzeitig laizistisch und muselmanisch sein! Entweder bist du Muselmane oder laizistisch!

    Wenn man beides zugleich ist, ist das so, wie wenn zwei Magnete sich gegenseitig abstoßen! Beides zugleich zu sein, ist ein Ding der Unmöglichkeit! Und weil dem so ist, kann niemand, der sich Muselmane nennt, zur Seite gehen und sagen: „Ich bin gleichzeitig auch laizistisch”. Warum? Weil Allah, der Schöpfer des Muselmanen, definitiv die Souveränität besitzt!

    „Die Souveränität gehört bedingungslos der Nation.” Schaut! Das ist eine Lüge. [Publikum: Ah!] Eine kolossale Lüge. Wir hatten ihren Staatsrechtlern einen Vorschlag gemacht. Wir hatten zu ihnen gesagt: „Kommen Sie, lassen Sie uns nach dem Satz ‘Die Souveränität gehört bedingungslos dem Volk’ einen Satz in Klammern hinzufügen.” – „Und was soll da stehen?” fragten sie. Ich sagte: „In Klammern schreiben wir dann: ‘einmal in fünf Jahren’”. Da fingen sie an zu lachen. „Was gibt’s da zu lachen?” sagte ich, „hat die Nation denn außer dem einen Mal in fünf Jahren ein solches Recht?” Sie stutzen und stutzten und guckten sich gegenseitig an. „Ja wirklich, eigentlich nicht”, sagten sie. [Gelächter, Applaus]

    Ja! Und wer hat das gesagt? Da gibt’s doch diesen Kaptikaçti*, oder wie der heißt. Eben der! Und wo hat er es gesagt? Im Jahr 85 hatten wir uns zu einer Diskussion im Hotel Marmara getroffen. Dort hatten wir über’s Grundgesetz gesprochen.

    Und als ich ihm das also gesagt hatte, stand er auf und sagte: „Das geht nicht, das können wir nicht tun!” Der ehemalige Finanzminister Vural Arikan war auch mit von der Partie, war sternhagelblau, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, und hatte auch was dazu zu sagen gehabt. Ich sagte: „Ich fürchte, Sie hatten dieses Grundgesetz am selben Tisch verfaßt.” Warum? Weil die Männer es nicht mit nüchternem Kopf verfaßt haben, sie haben es mit betrunkenem Kopf verfaßt!

    Und deshalb hat ihr Grundgesetz nicht mal zwei Jahre lang Bestand gehabt. Noch im dritten Jahr haben sie’s völlig durchlöchert. Und jetzt ist dieses Grundgesetz vollkommen zerfetzt. Ein Sack mit lauter Flicken! Und schaut, was sie jetzt sagen. Diese Tage haben Journalisten Fragen gestellt: „Was denken Sie zu diesem Thema?” - „Die Souveränität gehört bedingungslos der Nation.”

    Schaut, denkt gut darüber nach. Sie gehört der Nation, wenn sie wohin geht? Wenn sie zur Wahlurne geht. Aber im Materiellen wie im Geistigen gehört die Souveränität bedingungslos Allah.


* Wortspiel: „kaptikaçti” bedeutet „Taschendiebstahl”; Erdogan meint aber Prof. Orhan Aldikaçti, den Vorsitzenden der Grundgesetzkommission, die 1982 die Veränderung des Grundgesetzes vornahm.

* * *

Quellen:
Redeausschnitte in den türkischen Tageszeitungen vom 21.08.2001: Hürriyet , Radikal, Milliyet
Videoclip des Redeausschnitts: Youtube

Folgende Links zu den türkischsprachigen Quellen sind noch aktiv:
http://webarsiv.hurriyet.com.tr/2001/08/21/18523.asp
http://www.milliyet.com/2001/08/21/siyaset/asiy.html
http://www.youtube.com/watch?v=tozH0M1gQWI

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