Freitag, 29. Juni 2018

Die Islamisierung des Alltags in der Türkei

von Corax
zuerst veröffentlicht 2008 in Kewils Blog Fakten-Fiktionen
 

Am 12. und 13. April dieses Jahres, also kurz vor dem Antrag des Generalstaatsanwalts zum Verbot der Regierungspartei AKP, erschien in der Milliyet eine zweiteilige Kolumne von Mehmet Ali Birand, einem der bekanntesten türkischen Kolumnisten, in der er sich mit der Islamisierung der türkischen Gesellschaft kritisch auseinandersetzt. Birand ist kein Islamkritiker. Wie aus der Kolumne hervorgeht, scheint er ein typischer türkischer Staatsmuslim zu sein, säkular und „laizistisch“ wie jeder gute türkische Staatsbürger mit muslimischen Hintergrund, der bei aller Säkularisierung Moslem bleibt, aus Identitäts- und Loyalitätsgründen (und aus Gründen des ungeschriebenen Gesetzes eines faktischen Verbots der Konversion zu einer nichtmuslimischen Religion). In der Kolumne beobachtet Birand die allmähliche Islamisierung seines Landes und präsentiert eine Reihe interessanter Alltagsbeobachtungen. Man erkennt, wie er sich die Augen dabei reibt, wenn er sieht, daß sich der Islam, mit dem ihm von der kemalistischen Staatsdoktrin zugewiesenen Anstandsgefängnis nicht abgeben will, wenn er Morgenduft schnuppert, und ausbricht und dabei die Grundlagen der Republik in Frage zu stellen droht. In seiner Analyse, wer den entscheidenden Anteil an der Islamisierung der Gesellschaft hat, macht er nicht die Fanatiker oder die frommen Muslime, nicht einmal die herrschende AKP aus (sie sind für ihn eher die Anstoßgeber), sondern die Masse der indifferenten Mitläufer, die Opportunisten und Islamisierungsgewinnler. Hier die Übersetzung seiner Kolumne:

Teil 1: Unser Alltagsleben islamisiert sich immer mehr

Jede Gesellschaft wird von der Einstellung, der Sprache und der Lebensweise ihrer Machthaber beeinflußt. Unsere Gesellschaft beläßt es nicht dabei, vielmehr gleicht sich ein Teil unserer Gesellschaft ihnen aus bloßem Eigennutz an, um durch Einschmeichelung bei der Macht Profit für sich herausschlagen.
Ich möchte Ihnen in dieser Kolumne eine allgemeine Beobachtung von mir mitteilen. Es kann sein, daß ich mich irre. Falls ich mich irre, schicken Sie mir bitte eine E-Mail und machen mich darauf aufmerksam. Schreiben Sie mir aber auch und teilen mir Ihre Ansichten mit, falls Sie denselben Eindruck haben wie ich.
Vor allem seitdem die AKP-Regierung nach den Wahlen vom 22. Juli eine wirkliche Regierung geworden ist und begonnen hat, ihre Macht wie eine wirkliche Regierung auszuüben, wird ihr Einfluß auf unsere Gesellschaft offenbar.



Von der Regierungsspitze bis zu den Ministern und den von ihnen eingesetzten Bürokraten, von den AKP-Stadtverwaltungen bis zu den Kreisen, die sich um die AKP scharen und von diesem ganzen System profitieren, sehe ich eine sich in weitem Umfang ausbreitende Veränderung der Einstellung. Wellenförmig erstreckt sich diese Veränderung allmählich auch auf die anderen Teile der Gesellschaft. Eine neue Lebensart, eine neue Haltung kommt auf, die es zwar früher auch schon gab, die aber jetzt immer allgemeiner wird.

Ich spreche davon, wie sich die Haltung und Einstellung der Machthaber, der Parteiführer, angefangen beim Premierminister Erdogan bis hinunter zu den kleinen AKP-Landräten, auf die Gesellschaft niederschlägt, und zwar ohne Instruktionen oder Anordnungen von oben.

DIE SPRACHE VERÄNDERT SICH

So ein Türkisch wurde früher nicht gesprochen. Jetzt wird eine viel geschwollenere Sprache mit viel mehr arabischen Wörtern und mit Zitaten aus dem Koran gesprochen. Wenn Sie den Premierminister sprechen hören, werden Sie in seiner Intonation, in seiner Sprachmelodie Spuren des Koranrezitationsunterrichts der Imam-Hatip-Schule [Anm.: Fachgymnasium zur Ausbildung zum Imam; Erdogan besuchte eine solche Schule] erkennen. Die verwendeten Wörter, die aufgestellten Beispiele, die Rhetorik insgesamt verändert sich allmählich. [In der Sprache] macht sich eine allgemeine Islamstimmung breit.

DIE KÖRPERSPRACHE

Früher hatte man sich viel häufiger die Hand gegeben und zuletzt kam noch die Vorliebe zum Küssen dazu. Bei jeder Begegnung hatte man sich, gleich ob man sich kannte oder nicht, gegenseitig geküßt. Jetzt verhält man sich viel reservierter. Hoch in Mode ist es nun, sich mit der Hand auf dem Herzen zu begrüßen. Bei den MHPlern zieht man es vor, sich zur Begrüßung die Köpfe aneinanderzustoßen. Vor allem den Frauen die Hand zu reichen, ist jetzt sehr riskant, weshalb man sie im allgemeinen mit einem Kopfnicken begrüßt.

ESSEN UND TRINKEN

Alkohol verschwindet allmählich von den Tischen. Nur um zu zeigen, wie weitherzig man ist, hat man eine Flasche in der Ecke stehen. Falls jemand möchte, bedient man ihn, – und damit hat es sich. Um solch einen Wunsch äußern zu können, müssen Sie entweder sehr mutig oder rücksichtslos sein. Allgemein trinkt man zum Essen jetzt Trinkjoghurt, Orangensaft oder sonstige Fruchtsäfte.

DIE KLEIDUNG

Der Tscharschaf kommt jetzt seltener vor. Dafür breitet sich rasend schnell die Türbanmode mit bis zu den Knöcheln herabreichendem Mantel aus. Dabei kleiden sich die meisten Frauen äußerst geschmacklos, als hätten sie sich in einen Vorhang gewickelt. Die Modehäuser vermehren sich, man sieht ihre Reklamen und gewinnt den Eindruck, als würde sich alles auf einen einzigen Garderobentyp hinbewegen. Bei den Männern gibt es allerdings keine große Veränderung. Außer denen, die schon immer mit Tarikatssymbolen herumlaufen, kleiden sie sich weiterhin in klassischem Zwirn.

DER ALLTAG

Geschlechtertrennung gab es auch früher schon, und ich weiß nicht, ob sie einem jetzt nur deshalb so sehr ins Auge sticht, weil man nun mehr darauf achtet, oder weil sie tatsächlich zugenommen hat; die Geschlechtertrennung bürgert sich jedenfalls immer mehr ein. Man trifft immer häufiger auf Strände und Schwimmbäder, die nur von Frauen besucht werden, und auf Hotels ohne Alkoholausschank. Gerade auch die Zahl derer, die zum Freitagsgebet gehen, steigt sprunghaft an, und vor allem gehen jetzt auch Leute hin, die früher nie hingegangen sind. Ich bin gespannt auf den nächsten Ramadan. Mal sehen, was uns da alles erwartet.

DIE MEDIEN

Die Zahl der Zeitungen und Fernsehsender, die religiöse Werte in den Vordergrund stellen und dem Islam und der islamischen Welt eine größere Bedeutung beimessen, nimmt in einem sehr bedeutsamen Ausmaß zu. Sowohl hinsichtlich ihrer Zahl als auch ihrer Auflagenhöhe erreichen sie eine immer größere Zahl von Menschen. Die Sendungen werden auffallend religiöser, ihre Botschaften legen große Betonung auf islamische Werte.

DAS KAPITAL

Ich beobachte, wie ein Teil der Gesellschaft seine eigene Klasse der Wohlhabenden schafft. Es wird ein religiöses Unternehmen nach dem anderen gegründet. Leute, die man früher geschnitten hätte, erhalten jetzt große Aufträge und verdienen großes Geld. Und je mehr Arbeiter sie anstellen, um so mehr lassen sich auch die Familien dieser Arbeiter in diese Atmosphäre hineinreißen.

Von welcher Gruppe geht nun die Islamisierung der Gesellschaft aus?

Wie ich eingangs gesagt habe, wird dieser Trend nicht durch Anordnungen, durch geheime oder offene Instruktionen der AKP in Gang gesetzt. Eine veränderte Lebensart breitet sich selbständig von oben nach unten aus. Da gibt es einmal eine Gruppe von Leuten, die diese von der Regierungspartei ausgehende Lebensart wie Missionare propagieren. Eine weitere Gruppe wird von Leuten gebildet, denen früher der Mut dazu gefehlt hatte, sich aber jetzt offen zu erkennen geben. Und schließlich gibt es diejenigen, die sich der Strömung anschließen, um ihre Vorteile zu wahren und ihren Profit daraus zu schlagen. Darauf will ich morgen im zweiten Teil dieser Kolumne eingehen.

Teil 2: Wer islamisiert unser Alltagsleben?

[...] Ich habe [im ersten Teil dieser Kolumne] die Behauptung aufgestellt, daß sich unser Leben immer mehr islamisiert und Ihnen dazu einige Beobachtungen von mir mitgeteilt. [...] Heute möchte ich versuchen zu erklären, von welchen Gruppen diese Entwicklung vorangetrieben wird.

Die Sache hat ganz klar damit begonnen, daß die AKP fühlte, daß sie nach den Wahlen vom 22. Juli eine wirkliche Regierung geworden ist, und daß sie nun ihre Regierungsmacht [wirklich] ausübt. Die Gesellschaft beobachtet die Kreise, die die Regierung bilden, und beginnt dabei langsam, sich auf sie einzustimmen. Wenn Sie bei der Beobachtung dieser Beeinflussung neben den Kreisen, die das Land regieren, auch die Stadtverwaltungen beachten, werden Sie sehen können, wie sich die neue Lebensart von oben aus in einen weiten Bereich der Gesellschaft hinein ausbreitet.

Passen aber auf: die Regierung betreibt keine Kampagne zur Beeinflussung [der Gesellschaft] mit Hilfe von Anordnungen oder geheimen Instruktionen. Dazu mag ein Beispiel genügen: Leute, die die Bekleidung von Emine Erdogan sehen, fangen an, sie nachzuahmen; Leute, die den Premierminister sprechen hören, fangen an, so zu sprechen wie er. Und es gibt bestimmte Gruppen von Leuten, die diese Veränderung beschleunigen. Schauen wir, aus welchen Leuten diese Gruppen bestehen:

DIE MISSIONARE

Unter Missionarentum verstehen wir normalerweise das Verbreiten des Christentums. Ich nenne auch diejenigen Missionare, die sich mit aller Kraft dafür einsetzen, den Islam unserem Alltagsleben noch stärker aufzuprägen. Diese Gruppen haben, obwohl sie eine Minderheit darstellen, doch eine große Wirkung. Sie handeln aus einer militanten Einstellung heraus. Sie wollen, daß die Türkei das Rechtssystem der Scharia übernimmt. Auch wenn ihnen dazu die Kraft nicht ausreichen mag, bilden sie Kader, gehen von Tür zu Tür und rezitieren auf Demonstrationen unter grünen Fahnen das islamische Glaubensbekenntnis. Dieser Tage hat ihr Selbstbewußtsein stark zugenommen, und im Vergleich zu früher treten sie vermehrt in der Öffentlichkeit auf. Sie üben Druck auf Leute aus, die Alkohol trinken, sie wenden sich gegen Leute, die am Ramadan nicht fasten, und verstärken ihren Druck auf die Stadtviertel.

DIE EHEMALS BENACHTTEILIGTEN

Eine größere Gruppe besteht aus den Leuten, die denken, daß sie früher wegen ihrer religiösen Überzeugung benachteiligt gewesen wären. Unter ihnen gibt es auch sehr fromme Gruppierungen. Sie glauben, sie seien in der Vergangenheit im Namen des Laizismus herumgestoßen worden, und hätten sich nicht so verhalten können, wie sie es gewollt hätten. Nachdem die AKP an die Regierung kam, wuchs ihr Selbstvertrauen und sie trauten sich heraus. Früher gingen sie weder in Hotels noch an die Badestrände. In den Einkaufszentren fielen sie kaum auf. Durch die AKP-Regierung wurden sie mutiger. Sie fühlen nicht mehr die Notwendigkeit, sich zu verstecken. Sie sind überall, in derselben Anzahl, aber sie fallen einem mehr auf. Diese Gruppe hat einen großen Einfluß bei der Islamisierung des Alltagslebens. Manchmal verhalten sie sich so, als würden sie sich für früher rächen.

DIE GEWINNLER

Die meiner Meinung nach größte Gruppe besteht aus Leuten, die sich der Tagesmode anpassen, die sich bei der Regierung beliebt machen wollen, kurz, die aus [dem Wohlwollen der] Regierungskreise Profit schlagen wollen. Vorneweg die Bürokratie: angefangen bei den Diplomaten, die zu Hause Alkohol trinken, aber, wenn sie mit AKPlern zu Tische sitzen, Orangensaft in ihre Gläser füllen, bis hin zu allen Mitarbeiterzirkeln in den Ministerien und den Beschäftigten in den Stadtverwaltungen paßt man sich größtenteils der allgemeinen von der Regierung gepflegten Stimmung an. Möglicherweise denken sie, sie würden schon später, wenn die Regierung wechselt, wieder zum Alten zurückkehren. Nur bemerken sie nicht, daß sie ihren Frauen und Töchtern, denen sie aus Modegründen das Kopftuch verpaßt haben, dieses Kopftuch später vielleicht nicht mehr wegnehmen können. Natürlich darf man hier auch nicht die dem Profit hinterher rennenden Geschäftsleute mit ihrem ganzen Umfeld vergessen, die nur, um Aufträge zu ergattern oder um Arbeit zu finden, mit der Regierung kokettieren.

SCHUSSFOLGERUNG

Ich habe Ihnen nun in zwei Tagen einige Beobachtungen von mir mitgeteilt. Wie ich eingangs sagte, kann es sein, daß mir dabei Fehler unterlaufen sind. Aber es sind doch einige augenfällige Tatsachen darunter. Die türkische Gesellschaft verändert sich. In dieser Veränderung sehen manche eine Veränderung in Richtung Scharia. Andere bewerten es als eine Orientalisierung oder eine Anpassung an den Nahen Osten. Egal wie wir es nennen wollen, laßt uns diese Entwicklung beobachten und laßt uns danach handeln.

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