Freitag, 29. Juni 2018

Chrestomathia Erdoganica (1) – Demokratie als Mittel zur Abschaffung seiner selbst


von Corax
zuerst veröffentlicht 2008 in Kewils Blog "Fakten-Fiktionen"




Erdogan verfolgte bis zu seiner Haftstrafe im Jahre 1999 eine recht unverblümte islamistische Agenda. Seitdem gibt er sich als geläuterter Demokrat. Ob seine Läuterung echt ist, darüber streiten sich die Geister, Altkanzler Schröder z.B. glaubt ihm, der türkische Generalstaatsanwalt glaubt ihm nicht. Im folgenden ein kleiner Rückblick auf seine Zeit vor seiner “Läuterung” an Hand des Zeitdokuments einer Kolumne aus dieser Zeit.

Am 19. Juli 1998 veröffentlichte der türkische Kolumnist Hasan Cemal eine Kolumne mit dem Titel “Scheindemokraten!” (1); Im selben Jahr wurde Recep Tayyip Erdogan, der damals Oberbürgermeister von Istanbul war, aufgrund einer Rede in der ostanatolischen Stadt Siirt, in der er jene daraufhin berühmt gewordenen, fälschlicher- oder auch irreführenderweise dem türkischen Nationaldichter Ziya Gökalp zugeschriebenen Verse rezitiert hatte, zu einer Haftstrafe und zu lebenslangem Politikverbot verurteilt, und zwar (laut Wikipedia) am 27. März 1998, so daß die Kolumne “Scheindemokraten!” also kurz nach der Verurteilung Erdogans veröffentlicht sein muß.

In der Kolumne geht es um die Frage: Ist die Demokratie ein Mittel oder ein Ziel?

Hasan Cemal erinnert an Hitlers Nazipartei, die auf demokratische Weise an die Regierung gekommen war, dann aber, als sie im Sattel saß, die Demokratie beendete und ein diktatorisches Regime errichtete. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs, so Cemal weiter, hätten die demokratischen Staaten Gesetze zum Schutz der Demokratie erlassen, um wirksamer gegen einen Mißbrauch der Demokratie zur Errichtung nazistischer, faschistischer oder kommunistischer Systeme kämpfen zu können. Nach dem Fall der Berliner Mauer habe es erst mal nach einem endgültigen Sieg der Demokratie ausgesehen. Es habe sich dann aber mit dem islamischen Fundamentalismus ein neuer bedrohlicher Totalitarismus erhoben.

Cemal erinnert an den Stellvertretenden Außenministers von Iran, Mohammad Javad Zarif, der im Februar 1997 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt habe, daß im Iran die Scharia durch eine Revolution etabliert worden sei, daß dasselbe aber auch über den Weg der Demokratie erreicht werden könne, und daß die Türkei ein Land sei, in der eben dieser Weg möglich sei. Und Cemal erinnert weiter an Erbakan. Der habe genau zur selben Zeit (er war gerade türkischer Ministerpräsident) gesagt, daß es auch das Ziel seiner Partei (der Wohlfahrtspartei, der damals auch Erdogan angehörte) sei, “der Türkei die islamische Ordnung zu bringen”.

Nach dieser Einleitung wendet sich der Kolumnist Recep Tayyip Erdogan zu. Im folgenden die Übersetzung des Kernteils der Kolumne, die sich Erdogan widmet:

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Aus all diesen Gründen behält gerade seit den letzten Jahren die Debatte, ob die Demokratie Mittel oder Ziel sei, auch in der Türkei ihre Aktualität. Der Istanbuler Oberbürgermeister Recep Tayyip Erdogan wurde zu einer der Personen, die diese Debatte anheizten. In einem Interview mit meiner geschätzten Kollegin Nilgün Cerrahoglu sagte er offen, daß für seine Partei die

    Demokratie nicht Ziel, sondern Mittel sei.

    Tayyip Erdogan machte diese Aussage vor zwei Jahren. Und zwei Jahre lang wurde er deswegen von vielen Publizisten und Politikern, mich eingeschlossen, kritisiert.

    Und Tayyip schwieg zwei Jahre lang. Als dann die Wohlfahrtspartei verboten worden war und er selbst sich offen um die Führerschaft [der nachfolgenden Tugendpartei] bemühte, begann er, seine Worte Stück für Stück zu dementieren, sie zu entstellen, bis er schließlich in der Hürriyet erklärte, derartiges nicht gesagt zu haben.

    Daraufhin schrieb Nilgün Cerrahoglu unlängst in ihrer Milliyet-Kolumne, daß sie eine Tonbandaufzeichnung habe und daß auch Tayyip Erdogan seinerseits das Interview auf Band aufgenommen habe.

    “Verehrter Bürgermeister, vielleicht führt Sie Ihr Gedächtnis in die Irre. Lassen Sie uns die Tonbandgeräte anschalten. Hören Sie sich die Tonbandaufzeichnung an:

    – Würden Sie sagen, daß die Wohlfahrtspartei eine schariatische Partei ist?

    – Sie können sagen, sie ist eine Partei der gerechten Ordnung.

    – In einem antischariatischen Sinn?

    – Schauen Sie, was ich sage. Sie können sagen, sie ist eine Partei der gerechten Ordnung. Diese Partei wird nicht Diener des Dieners sein. Diese Partei wird allein Diener Gottes sein.

    – Diener Gottes, gut. Und wie wird ihre Treue zur Demokratie sein?

    – Völlig tadellos.

    – Wird es eine neunundneunzigprozentige Demokratie sein?

    – Bislang ist noch keine Partei aufgetreten, die die Demokratie so versteht wie wir, die sie so lebt und sich anstrengt, sie so zu beleben, wie wir. Aber ist die Demokratie Ziel oder Mittel? Nun, hier haben wir eine andere Auffassung. Wir sagen, die Demokratie ist ein Mittel. Die Demokratie ist kein Ziel.”

    * * *

    Erdogans Worte sind sehr offen. Und sie sind auf Band aufgenommen! Im selben Interview hatte Tayyip Erdogan erklärt, daß die Referenz seiner Partei der Islam sei. Nilgün fragte ihn:

    “In dem Interview, das ich mit Abdullah Gül gemacht hatte, hatte er gesagt:
    ‘Wenn wir an die Regierung kommen, werden Gesetze, die dem Islam widersprechen, abgeschafft.’ Wird das geschehen?”

    Darauf Tayyip Erdogan:

    “Die Wohlfahrtspartei ist nicht die Religion. Sie ist nicht mit dem Islam gleichzusetzen. Aber ihre Referenz ist der Islam. Wir wollen nichts tun und nichts leben, was unserer Referenz zuwiderläuft.”
    Nilgün ließ nicht locker:

    “Werden Gesetze, die Ihrer Referenz zuwiderlaufen, abgeschafft werden?”

    Erdogan antwortete offen:

    “Natürlich. Auch die Gesetze sind menschengemacht.” (Milliyet, 14. Juli 1996, Seite 20)

    Nun reihen Sie alles nacheinander auf:

    – Unser Kompaß ist der Islam.
    – Ihm gemäß werden wir leben.
    – Auch die Gesetze dürfen nicht dem Islam zuwiderlaufen.
    – Was ihm zuwiderläuft, verändern wir.
    – Auch die Demokratie ist nicht das Ziel.
    – Was ist sie dann?
    – Sie ist ein Mittel auf dem Wege zur islamischen Ordnung.

    Können Sie jetzt sagen, was aus all dem folgt? Es bedeutet eine Gesellschaft und eine Staatsordnung, die auf den Grundlagen der Religion beruhen; es bedeutet die Ermordung des Laizismus. Und hat Demokratie da, wo es keinen Laizismus gibt, noch eine Bedeutung? Natürlich nicht.

(1) Quelle (in türkischer Sprache): http://arsiv.sabah.com.tr/1998/07/19/y01.html

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