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Unabhängigkeitsmarsch
Hab keine Angst, diese Fahne, die im Morgenlicht weht, sie wird nicht erlöschen,
Solange das letzte Herdfeuer noch brennt in meinem Heimatland.
Sie ist der Stern meines Volkes, der weiterleuchten wird;
Sie ist mein, sie gehört meinem Volk allein!
Schmolle nicht, ich bitte dich, mein Halbmond, zier dich nicht,
Was soll diese Härte, dieser Zorn? Lache meine Heldenrasse lieber an!
Denn unser für dich vergossenes Blut ist sonst nicht halal.
Unabhängigkeit – das ist das Recht meines den gerechten Gott anbetenden Volkes.
Seit Ewigkeiten habe ich frei gelebt, frei will ich leben.
Ich wundere mich, was für ein Wahnsinniger mich da in Ketten legen will.
Ich bin wie eine wilde Flut, ich zerdrücke die Deiche und überspüle sie.
Berge sprenge ich, Meeresweiten beengen mich, hoch woge ich auf.
Wenn sich im Westen eine Wand aus stählernen Panzern am Horizont formiert,
Wird meine Grenze so stark sein, wie mein glaubensvolles Herz.
Lass sie nur heulen! – Hab keine Angst! – Wie soll sie einen solchen Glauben ersticken können,
Diese Bestie mit dem einen Restzahn, die du "Zivilisation" nennst?
Kamerad, lass dies niedrige Volk nicht in mein Vaterland hinein.
Halte ihnen deinen Körper als Schild entgegen. Gestoppt werden muss dieser unverschämte Überfall.
Die Tage werden kommen, die Gott dir verheißen hat,
Wer weiß, vielleicht morgen schon, vielleicht ein wenig später.
Geh nicht über das Land, das deine Füße treten, achtlos hinweg; es ist mehr als bloße Erde. Erkenne es!
Denk an die, die zu Tausenden ohne Leichentuch darunter liegen!
Du bist Sohn von Märtyrern! Kränke – welch Schande – nicht deine Vorväter!
Gib dieses himmlische Vaterland nicht her, auch wenn du Welten dafür erhieltest!
Wer wollte sich nicht hinopfern für dieses himmlische Vaterland?
Wenn du diese Erde zusammenpresst, dann sprudeln Märtyrer daraus hervor – Märtyrer!
Mein Leben, meine Liebsten und all mein Hab und Gut soll Gott ruhig hinwegnehmen,
Doch niemals trenne er mich auf Erden von meinem einzig Vaterland.
Nur dies eine ersehnt sich meine Seele von dir, oh Gott:
Keines Fremden Hand soll je anrühren die Brust meiner Gebetsstätten!
Und die Gebetsrufe – das Zeugnis und das Fundament der Religion –
Sollen auf ewig in meinem Vaterland erschallen!
Dann wird sich mein Grabstein, wenn ich einen habe, vieltausendmal in Verzückung niederwerfen,
Dann werden meine Bluttränen, oh Gott, sich aus all meinen Wunden ergießen,
Dann wird mein Körper einer Seele gleich aus der Erde herausspringen,
Dann wird hoch hinaufsteigen mein Haupt und vielleicht sogar Gottes Thron berühren.
Oh ruhmvoller, wie Morgenluft wehender Halbmond,
All mein vergossenes Blut – es sei nun halal!
Auf ewig fällst du, fällt meine Rasse nie der Vernichtung anheim.
Freiheit – das ist das Recht meiner Fahne, die immer frei gelebt hat.
Unabhängigkeit – das ist das Recht meines den gerechten Gott anbetenden Volkes.
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Interpretation
Verfasser des Gedichts "Unabhängigkeitsmarsch" ist der türkische Dichter und Parlamentsabgeordnete Mehmet Âkif Ersoy (1873–1936). Er schrieb es während des Unabhängigkeitskriegs der Türkei (1919–1923) gegen die westlichen alliierten Besatzungsmächte, die Gebiete der Türkei an Griechenland und Armenien annektieren wollten. Das Gedicht wurde 1921 von der ersten Großen Nationalversammlung der Republik Türkei zur Nationalhymne der Türkei erklärt. Ersoy erklärte das Gedicht daraufhin zum Werk der türkischen Nation und nahm es daher nicht in seinen Gedichtband auf. Die türkische Nation gilt als Autor des Gedichts.
Als Hymne gesungen werden nur die ersten zwei Strophen. Das gesamte Gedicht wird dagegen in pathetischem Vortrag rezitiert.
Bemerkenswert an diesem Nationalgedicht ist der darin herrschende tiefe islamische Pathos. Dies erstaunt um so mehr, als die Republik Türkei sich offiziell als ein laizistischer Staat darstellt.
Vaterlandsliebe und Islam (Unterwerfung unter Allah) werden in dem Gedicht zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen. Der Soldat, der für das Vaterland fällt, ist zugleich ein Märtyerer des Islam, der bis in den neunten Himmel aufsteigt. Das Vaterland selbst wird mit dem islamischen Paradies (cennet) gleichgesetzt ("himmlisches Vaterland" in wörtlicher Übersetzung: "Paradies-Vaterland"). Das Blut, das der für die Unabhängigkeit seines Landes kämpfende Türke seiner Fahne opfert, ist halal.
Was bedeutet das? Wenn Moslems ein Tier schlachten, muss dies nach festen religiösen Regeln geschehen, sonst ist das Fleisch nicht halal und darf nicht von Moslems gegessen werden. Eine dieser Regeln lautet, dass der Name Allahs beim Töten des Tieres ausgesprochen werden muss. Das Tier muss quasi Allah und dem Islam geweiht werden. Das Blut eines im Krieg für sein Vaterland gefallener Türke ist also halal, wenn er seinen Tod Allah und dem Islam geweiht hat. Das Religiöse und das Weltliche sind in diesem Gedicht untrennbar miteinander verwoben. Halal ist das Blut des gefallenen Soldaten, wenn er sein Blut dem Vaterland, der Fahne, dem Halbmond geweiht hat. Aber dieses Vaterland, diese Fahne ist nichts ohne den Islam. Daher ist sein Blut auch und vor allem deshalb halal, weil er es Allah und dem Islam geweiht hat. In der zweiten Strophe wird die Fahne (der "Halbmond") angeredet: Sie möge die türkische "Heldenrasse" nicht mit Härte begegnen, sie möge sie statt dessen anlachen, denn sonst sei das Blut der Märtyrer nicht halal. Mit diesen Versen wird die türkische Fahne, der "Halbmond", geradezu mit Allah gleichgesetzt. Denn nur wenn Allah die Weihung des Opfers annimmt (den Weihenden "anlacht") ist das Opfer halal.
Das ganze Land ist getränkt von diesem Halal-Blut der Märtyrer, so daß Tausende Märtyrer hervorsprudeln, wenn man eine Hand voll davon mit Händen preßt. Das halalblutgetränkte Land ist ebenfalls halal. Es ist das irdische Abbild des Paradieses. Es ist für immer dem Islam geweiht und muß daher stets gegen andere (gegen nicht-halale, also harame, das heißt verbotene) Religionen beschützt werden. Auf immer soll der Gebetsruf auf dem Vaterlande erschallen; keines Fremden, also keines Kafirs (keines Ungläubigen) Hand soll die Moscheen anrühren. Den opferbereiten Türken, die ihr Blut dem Vaterland und dem Islam opfern, steht als Feind der Westen gegenüber. Der Westen gilt zwar als Zivilisation, ist aber in Wahrheit eine Bestie, denn ihr fehlt der wahre Glaube, der Islam. Der Westen mag noch so sehr von Waffen strotzen, die auf dem ersten Blick furchteinflößend sind ("Wand aus stählernen Panzern"), doch die einzig entscheidende Waffe, der Islam, fehlt ihr. Seine äußeren grollend klirrenden Kriegswaffen sind nichts weiter als der letzte einsame Zahn im ansonsten zahnlosen Maul der Bestie. Ihr ist der Türke mit seinem glaubensvollen Herz überlegen. Allah ist mit ihm im Bunde. Soll das Monstrum sein Kriegsgeheul nur erschallen lassen, gegen die glaubensstarke, Halbmond und Allah ergebene Macht der ihr eigenes Blut opfernden Märtyrer, die wie eine wilde Flutwelle alle Dämme durchbrechen, Berge zerreißen, das Meer zum Überlaufen bringen, kann es nichts ausrichten. Unabhängigkeit und Freiheit in politischer und in religiöser Hinsicht – in letzterem Sinn Freiheit im Islam; also Freiheit von nichtislamischen und antiislamischen Einflüssen; Freiheit, den Islam auf ewig zu bewahren – das ist das Recht (aber auch die Pflicht) des türkischen Volkes, weil es Hak anbetet. ("Hak" bedeutet "das Recht" und ist zugleich ein üblicher Name für Allah; in der Gedichtübersetzung mit "der Gerechte Gott" wiedergegeben.)
Natürlich hat die Hymne einen geschichtlichen Kontext. Sie wurde während des türkischen Befreiungskriegs geschrieben und diente der Mobilisierung der Türken gegen die westlichen Besatzungsmächte. Mit dem einzähnigen Monster sind also im historischen Kontext die alliierten Sieger- und Besatzungsmächte nach dem I. Weltkrieg gemeint. Da das Gedicht aber zur Hymne der Türkei erhoben wurde, wird die darin enthaltene Botschaft aus der historischen Situation herausgelöst und gewinnt eine für das türkische Volk allgemeine, überzeitliche Gültigkeit, ist also frei für jeweils aktuell mögliche Deutungen.
Die Hymne ist in der Türkei allgegenwärtig. Laut englischer Wikipedia hängt in allen staatlichen und in den meisten privaten Schulen der Text des Unabhängigkeitsmarsches zusammen mit einem Bild Atatürks und einer Rede Atatürks an die Jugend eingerahmt über der Schultafel. Schüler lernen den Unabhängigkeitsmarsch auswendig und in den Schulen werden Wettbewerbe veranstaltet, welcher Schüler die Hymne am schönsten vortragen kann. Auf Youtube wimmelt es nur so von Videos solcher Vorträge. Wer einen Eindruck gewinnen möchte, kann im Youtube-Fenster "İstiklal marşı" (Unabhängigkeitsmarsch) eingeben.
(Interpretation editiert am 18.07.18)
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