Freitag, 13. Juli 2018

Die türkische Nationalhymne

Der folgende Text beruht auf einem Beitrag von Corax auf Kewils Blog "Fakten Fiktionen", gepostet im Jahr 2010. Der Text (sowohl die Übersetzung der türkischen Nationalhymne als auch die nachfolgende Interpretation) ist neu bearbeitet.

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Unabhängigkeitsmarsch


Hab keine Angst, diese Fahne, die im Morgenlicht weht, sie wird nicht erlöschen,
Solange das letzte Herdfeuer noch brennt in meinem Heimatland.
Sie ist der Stern meines Volkes, der weiterleuchten wird;
Sie ist mein, sie gehört meinem Volk allein!

Schmolle nicht, ich bitte dich, mein Halbmond, zier dich nicht,
Was soll diese Härte, dieser Zorn? Lache meine Heldenrasse lieber an!
Denn unser für dich vergossenes Blut ist sonst nicht halal.
Unabhängigkeit das ist das Recht meines den gerechten Gott anbetenden Volkes.

Seit Ewigkeiten habe ich frei gelebt, frei will ich leben.
Ich wundere mich, was für ein Wahnsinniger mich da in Ketten legen will.
Ich bin wie eine wilde Flut, ich zerdrücke die Deiche und überspüle sie.
Berge sprenge ich, Meeresweiten beengen mich, hoch woge ich auf.

Wenn sich im Westen eine Wand aus stählernen Panzern am Horizont formiert,
Wird meine Grenze so stark sein, wie mein glaubensvolles Herz.
Lass sie nur heulen! Hab keine Angst! Wie soll sie einen solchen Glauben ersticken können,
Diese Bestie mit dem einen Restzahn, die du "Zivilisation" nennst?

Kamerad, lass dies niedrige Volk nicht in mein Vaterland hinein.
Halte ihnen deinen Körper als Schild entgegen. Gestoppt werden muss dieser unverschämte Überfall.
Die Tage werden kommen, die Gott dir verheißen hat,
Wer weiß, vielleicht morgen schon, vielleicht ein wenig später.

Geh nicht über das Land, das deine Füße treten, achtlos hinweg; es ist mehr als bloße Erde. Erkenne es!
Denk an die, die zu Tausenden ohne Leichentuch darunter liegen!
Du bist Sohn von Märtyrern! Kränke welch Schande nicht deine Vorväter!
Gib dieses himmlische Vaterland nicht her, auch wenn du Welten dafür erhieltest!

Wer wollte sich nicht hinopfern für dieses himmlische Vaterland?
Wenn du diese Erde zusammenpresst, dann sprudeln Märtyrer daraus hervor Märtyrer!
Mein Leben, meine Liebsten und all mein Hab und Gut soll Gott ruhig hinwegnehmen,
Doch niemals trenne er mich auf Erden von meinem einzig Vaterland.

Nur dies eine ersehnt sich meine Seele von dir, oh Gott:
Keines Fremden Hand soll je anrühren die Brust meiner Gebetsstätten!
Und die Gebetsrufe das Zeugnis und das Fundament der Religion
Sollen auf ewig in meinem Vaterland erschallen!

Dann wird sich mein Grabstein, wenn ich einen habe, vieltausendmal in Verzückung niederwerfen,
Dann werden meine Bluttränen, oh Gott, sich aus all meinen Wunden ergießen,
Dann wird mein Körper einer Seele gleich aus der Erde herausspringen,
Dann wird hoch hinaufsteigen mein Haupt und vielleicht sogar Gottes Thron berühren.

Oh ruhmvoller, wie Morgenluft wehender Halbmond,
All mein vergossenes Blut es sei nun halal!
Auf ewig fällst du, fällt meine Rasse nie der Vernichtung anheim.
Freiheit das ist das Recht meiner Fahne, die immer frei gelebt hat.
Unabhängigkeit das ist das Recht meines den gerechten Gott anbetenden Volkes.

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Interpretation


Verfasser des Gedichts "Unabhängigkeitsmarsch" ist der türkische Dichter und Parlamentsabgeordnete Mehmet Âkif Ersoy (18731936). Er schrieb es während des Unabhängigkeitskriegs der Türkei (19191923) gegen die westlichen alliierten Besatzungsmächte, die Gebiete der Türkei an Griechenland und Armenien annektieren wollten. Das Gedicht wurde 1921 von der ersten Großen Nationalversammlung der Republik Türkei zur Nationalhymne der Türkei erklärt. Ersoy erklärte das Gedicht daraufhin zum Werk der türkischen Nation und nahm es daher nicht in seinen Gedichtband auf. Die türkische Nation gilt als Autor des Gedichts.

Als Hymne gesungen werden nur die ersten zwei Strophen. Das gesamte Gedicht wird dagegen in pathetischem Vortrag rezitiert.

Bemerkenswert an diesem Nationalgedicht ist der darin herrschende tiefe islamische Pathos. Dies erstaunt um so mehr, als die Republik Türkei sich offiziell als ein laizistischer Staat darstellt.

Vaterlandsliebe und Islam (Unterwerfung unter Allah) werden in dem Gedicht zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen. Der Soldat, der für das Vaterland fällt, ist zugleich ein Märtyerer des Islam, der bis in den neunten Himmel aufsteigt. Das Vaterland selbst wird mit dem islamischen Paradies (cennet) gleichgesetzt ("himmlisches Vaterland" in wörtlicher Übersetzung: "Paradies-Vaterland"). Das Blut, das der für die Unabhängigkeit seines Landes kämpfende Türke seiner Fahne opfert, ist halal.

Was bedeutet das? Wenn Moslems ein Tier schlachten, muss dies nach festen religiösen Regeln geschehen, sonst ist das Fleisch nicht halal und darf nicht von Moslems gegessen werden. Eine dieser Regeln lautet, dass der Name Allahs beim Töten des Tieres ausgesprochen werden muss. Das Tier muss quasi Allah und dem Islam geweiht werden. Das Blut eines im Krieg für sein Vaterland gefallener Türke ist also halal, wenn er seinen Tod Allah und dem Islam geweiht hat. Das Religiöse und das Weltliche sind in diesem Gedicht untrennbar miteinander verwoben. Halal ist das Blut des gefallenen Soldaten, wenn er sein Blut dem Vaterland, der Fahne, dem Halbmond geweiht hat. Aber dieses Vaterland, diese Fahne ist nichts ohne den Islam. Daher ist sein Blut auch und vor allem deshalb halal, weil er es Allah und dem Islam geweiht hat. In der zweiten Strophe wird die Fahne (der "Halbmond") angeredet: Sie möge die türkische "Heldenrasse" nicht mit Härte begegnen, sie möge sie statt dessen anlachen, denn sonst sei das Blut der Märtyrer nicht halal. Mit diesen Versen wird die türkische Fahne, der "Halbmond", geradezu mit Allah gleichgesetzt. Denn nur wenn Allah die Weihung des Opfers annimmt (den Weihenden "anlacht") ist das Opfer halal.

Das ganze Land ist getränkt von diesem Halal-Blut der Märtyrer, so daß Tausende Märtyrer hervorsprudeln, wenn man eine Hand voll davon mit Händen preßt. Das halalblutgetränkte Land ist ebenfalls halal. Es ist das irdische Abbild des Paradieses. Es ist für immer dem Islam geweiht und muß daher stets gegen andere (gegen nicht-halale, also harame, das heißt verbotene) Religionen beschützt werden. Auf immer soll der Gebetsruf auf dem Vaterlande erschallen; keines Fremden, also keines Kafirs (keines Ungläubigen) Hand soll die Moscheen anrühren. Den opferbereiten Türken, die ihr Blut dem Vaterland und dem Islam opfern, steht als Feind der Westen gegenüber. Der Westen gilt zwar als Zivilisation, ist aber in Wahrheit eine Bestie, denn ihr fehlt der wahre Glaube, der Islam. Der Westen mag noch so sehr von Waffen strotzen, die auf dem ersten Blick furchteinflößend sind ("Wand aus stählernen Panzern"), doch die einzig entscheidende Waffe, der Islam, fehlt ihr. Seine äußeren grollend klirrenden Kriegswaffen sind nichts weiter als der letzte einsame Zahn im ansonsten zahnlosen Maul der Bestie. Ihr ist der Türke mit seinem glaubensvollen Herz überlegen. Allah ist mit ihm im Bunde. Soll das Monstrum sein Kriegsgeheul nur erschallen lassen, gegen die glaubensstarke, Halbmond und Allah ergebene Macht der ihr eigenes Blut opfernden Märtyrer, die wie eine wilde Flutwelle alle Dämme durchbrechen, Berge zerreißen, das Meer zum Überlaufen bringen, kann es nichts ausrichten. Unabhängigkeit und Freiheit in politischer und in religiöser Hinsicht in letzterem Sinn Freiheit im Islam; also Freiheit von nichtislamischen und antiislamischen Einflüssen; Freiheit, den Islam auf ewig zu bewahren das ist das Recht (aber auch die Pflicht) des türkischen Volkes, weil es Hak anbetet. ("Hak" bedeutet "das Recht" und ist zugleich ein üblicher Name für Allah; in der Gedichtübersetzung mit "der Gerechte Gott" wiedergegeben.)

Natürlich hat die Hymne einen geschichtlichen Kontext. Sie wurde während des türkischen Befreiungskriegs geschrieben und diente der Mobilisierung der Türken gegen die westlichen Besatzungsmächte. Mit dem einzähnigen Monster sind also im historischen Kontext die alliierten Sieger- und Besatzungsmächte nach dem I. Weltkrieg gemeint. Da das Gedicht aber zur Hymne der Türkei erhoben wurde, wird die darin enthaltene Botschaft aus der historischen Situation herausgelöst und gewinnt eine für das türkische Volk allgemeine, überzeitliche Gültigkeit, ist also frei für jeweils aktuell mögliche Deutungen.

Die Hymne ist in der Türkei allgegenwärtig. Laut englischer Wikipedia hängt in allen staatlichen und in den meisten privaten Schulen der Text des Unabhängigkeitsmarsches zusammen mit einem Bild Atatürks und einer Rede Atatürks an die Jugend eingerahmt über der Schultafel. Schüler lernen den Unabhängigkeitsmarsch auswendig und in den Schulen werden Wettbewerbe veranstaltet, welcher Schüler die Hymne am schönsten vortragen kann. Auf Youtube wimmelt es nur so von Videos solcher Vorträge. Wer einen Eindruck gewinnen möchte, kann im Youtube-Fenster "İstiklal marşı" (Unabhängigkeitsmarsch) eingeben.

(Interpretation editiert am 18.07.18)

Donnerstag, 12. Juli 2018

Chrestomathia Erdoganica (8) - Demokratie, Demokratie, Demokratie

von Corax
veröffentlicht am 12.06.2008 auf Kewils Blog "Fakten Fiktionen"


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"Atatürk hat gesagt, dass alle Souveränität dem Volk gehört. Die EU verlangt von uns demokratische Grundregeln des Zusammenlebens. Was wir wollen, ist nichts anderes: Demokratie, Demokratie, Demokratie."
Suat Kilic, AKP-Parlamentsabgeordneter (ZEIT 15.05.2008)


"'Die Souveränität gehört bedingungslos der Nation.' Schaut! Das ist eine Lüge. Eine kolossale Lüge. [...] Schaut, denkt gut darüber nach. Sie gehört der Nation, wenn sie wohin geht? Wenn sie zur Wahlurne geht. Aber im Materiellen wie im Geistigen gehört die Souveränität bedingungslos Allah."
Erdogan 1994

Nachdem der Generalstaatsanwalt Yalçinkaya beim Verfassungsgericht einen Verbotsantrag gegen die AKP und führende AKP-Politiker eingereicht hatte, hielt Erdogan in den folgenden Tagen auf mehreren Parteikonkressen in der anatolischen Provinz Reden, in denen er die eingeleiteten Schritte gegen seine Partei und seine Person wortmächtig verurteilte.

Von vielen dieser Reden, über die die türkische Presse natürlich ausführlich berichtet hat, und die der türkische Fernsehzuschauer in Auszügen ins Wohnzimmer übertragen bekam, gibt es Videodokumente auf Youtube. Im folgenden bringe ich die Übersetzung einiger dieser Videodokumente. Es lohnt sich, auch wenn man kein Türkisch versteht, sich einmal eines dieser Videos anzuschauen, um zu sehen, wie es dem begnadeten Redner Erdogan gelingt, wahre Begeisterungsstürme bei seinen Zuhörern auszulösen. Erdogan tritt in der Pose eines Volkstribuns, des Advokaten der Demokratie, des Anklägers der Feinde des Volkes, ja eines Siegers über diese Feinde auf.

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SIIRT

Die erste Rede hielt Erdogan am 15. April 2008, unmittelbar einen Tag nach dem Verbotsantrag, auf einem Kongreß des örtlichen AKP-Frauenverbands in Siirt, der Heimatstadt seiner Frau Emine, derselben Stadt, in der er 1997 während einer Rede die berühmten Minarettenverse rezitierte, die ihn dann ins Gefängnis brachten.

erstes Youtube-Video:

An bedeutsamen Tagen sind wir immer in Siirt. So auch jetzt. Heute ist das fünfte Jahr [meiner Ministerpräsidentenschaft]

Eine andere bedeutsame Entwicklung hat, wie ihr wißt, gestern abend begonnen. [Das Publikum skandiert: "Die Hände, die sich gegen die AK Partei ausstrecken, sollen gebrochen werden"]

[die Sprechchöre unterbrechend] Liebe Geschwister, liebe Geschwister, wie ihr wißt, sind wir eine Partei, die einen demokratischen Kampf führt. Wer einen demokratischen Kampf führt, der hat mit dem Brechen von Armen, mit dem Brechen von Händen, mit dem Brechen von Beinen nichts zu tun. Wer einen demokratischen Kampf führt, wird die größte Lehre an der Wahlurne erhalten, an der Wahlurne! [Jubel]

In diesem Land kann niemand die AK Partei, der 16 Millionen 500 Tausend Wähler im Glauben, daß diese Partei sich für einen demokratischen, laizistischen, sozialen Rechtsstaat* einsetzt, ihre Stimmen gegeben haben, zu einer Brutstätte des Laizismus erklären [verbessert sich] zu einer Brutstätte der Anti-Laizismus erklären. [Jubel, Sprechchöre]

Über eines müssen wir uns im Klaren sein: Das gestrige Ereignis war kein Schritt, der gegen die AK Partei unternommen wurde. Das gestrige Ereignis war ein Schritt, der gegen den nationalen Willen unternommen wurde, den nationalen Willen! [Sprechchor: "Die Hände, die sich gegen die AK Partei ausstrecken, sollen gebrochen werden"]

[Erdogan: beschwichtigende Handgeste, Kopfschütteln] Ihr jungen Leute, was ich gerade eben gesagt habe, danach werden wir uns richten. Danach werden wir uns richten. Und in unserem Land wird jeder, wenn er Erfolg erringt, ihn innerhalb der Demokratie erringen; und wenn er nicht erfolgreich ist, wird ihn der nationale Wille an der Wahlurne abstrafen und absetzen. So läuft das. [Applaus]

Jedes Wort, das wir, als wir im Jahre 2002 das Amt antraten, gegeben haben, jedes Ziel, das wir gesetzt haben, ist heute, Gott sei Dank, zu einem großen Teil erfüllt. [Applaus, Jubel] Die Türkei hat sich Schritt für Schritt von den schweren Krisenbedingungen, unter denen es gelebt hat, weg bewegt und steht nun einer gesunden, stabilen, dynamischen wirtschaftlichen Struktur gegenüber.

Jene dunkle Zeiten, in denen wir uns jeden Tag verschuldet hatten, jeden Tag wirtschaftlich schwächer wurden, jeden Tag dem Abgrund ein Stück näher kamen, sind zu Ende, liegen hinter uns. [Sprechchöre]

Die Türkei ist während der 23. Legislaturperiode [der derzeitigen AKP-Regierungsperiode] zu einem Land geworden, das immer weiter wächst, das jeden Tag Errungenschaft auf Errungenschaft erzielt, das die verlorenen Jahre langsam wieder zurückholt. Nicht nur Siirt, nicht nur Mardin, nicht nur Konya, nicht nur Kayseri, sondern alle 81 Provinzen der Türkei sind in eine Mobilmachung des Aufschwungs getreten. [Jubel, Applaus]

All unsere Dörfer leben auf, All unsere Wege sind erleuchtet. Dieses Bild erfüllt uns alle mit Freude, macht uns alle glücklich. Denn als die Türkei damals jene schweren Krisen durchmachte, war sie unter Regierungen, die die Sorgen dieser Nation nicht teilten, jeden Moment mit ihrer Angst allein gelassen, Tage zu verlieren - und wir haben viele Tage verloren. Andauernd gingen sie unserer Zukunft verloren. Die, die unser Land regiert hatten, ließen uns mit unseren Nöten, unserer Armut, unserer Ausweglosigkeit - jawohl, erinnert euch daran - allein, und fügten der Zukunft unserer Kinder Schaden zu. Unsere jungen Leute schauten voller Angst auf ihre Zukunft, waren von der ständigen Sorge bedrängt, wie sie ihr Leben fristen sollten. Ihre Hoffnung drohte zu versiegen. [Sprechchöre] Sie waren an den Punkt gelangt, wo sie sich für ihr Land, für ihre Lieben, für ihre Gesellschaft keine Träume mehr ausmalen konnten.

Doch jetzt ist unsere Gegenwart und hoffentlich auch unsere Zukunft, Gott sei dank, [emphatisch] von diesen abgewirtschafteten Krämern befreit. [Jubel, Sprechchöre]

Die Hoffnung ist wieder zurückgekehrt in die Augen unserer Kinder, die Zukunftsbegeisterung ist wieder in ihre Herzen eingekehrt. Denn die AK Partei ist an die Regierung gekommen. Die AK Partei ist aus den Forderungen dieser Nation nach Gerechtigkeit hervorgegangen. Die AK Partei ist keine Partei, die gegründet wurde, weil sie auf dem persönlichen Vorteil von Ahmet, Mehmet, Hasan und Hüseyin beruht. [emphatisch] Es war die Nation, die die Gründung der AK Partei beschlossen hat. Ihr habt es beschlossen! [Jubel, Sprechchöre]

Die AK Partei wurde aus dem Gewissen, aus der Vernunft dieser Nation geboren. Unsere Nation hat die AK Partei umarmt. Und die AK Partei hat unsere Nation umarmt. [Jubel] Wir haben keine Keile zwischen unsere Städten getrieben. Wir sind nicht zu einer Partei und einer Regierung für irgendwelche bestimmten Gruppen, für irgendwelche auf ihren Vorteil bedachten Kreise geworden. Wir haben die Türkei als Ganzes geliebt, und so werden wir sie auch weiterhin, bis zu unserem letzten Atemzug, lieben. [Jubel]

Liebe Mitbürger, was hatten wir gesagt, als wir uns auf den Weg machten? [Sprechchöre] Liebe Mitbürger, was hatten wir gesagt, als wir uns auf den Weg machten? Erinnert euch! Was hatten wir gesagt, [emphatisch] mit den Worten des Asik Veysel**? Veysel, das habt ihr vergessen, hat gesagt: [emphatisch rezitierend] "Wir sind auf einem langen, schmalen Weg, wir gehen Tag und Nacht." Das haben wir gesagt. [Jubel] Ja, wir sind auf einem langen, schmalen Weg, den werden wir gehen, Tag und Nacht. [mit äußerst kraftvoller Stimme, wie gegen einen Orkan anredend, und großen Jubel auslösend] Die Bedingungen mögen sein, wie sie wollen, ob bitterer Winter, ob Sturm, ob Orkan, Tag und Nacht werden wir diesen Weg gehen, werden wir diesen Weg im Dienst für das Volk gehen; niemand wird die Kraft haben, uns von diesem Weg abzubringen; diese Reise wird weitergehen.

Vergeßt nicht, vergeßt nicht: [emphatisch] Wie Siirt das Licht unseres Auges ist, so ist auch Sivas das Licht unserer Augen. Wie wir Isparta lieben, so sehr lieben wir auch Afyonkarahisar. Wie wir Hakkari, Van, Bitlis, Mus und Diyarbakir in unserem Herzen einen bedeutsamen Platz geben, ja, wie sie alle unser Leib und Leben sind, so sind auch Izmir, Baliksehir, Kütahya, Zonguldak unser Leib und Leben. [Jubel] Wir brachen mit der Bereitschaft auf, für die ganzen 780 Tausend Quadratkilometer dieser Erde unser Alles dreinzugeben. Deshalb, das müßt ihr bedenken, hat einzig die AK Partei es geschafft, aus ganzen 80 von den 81 Regierungsbezirken Abgeordnete zu entsenden. [Jubel]

Wir sind die einzige Partei, die von jeder Schicht der Gesellschaft Stimmen bekommen hat. Denn wir sind die Partei, die sich mit dem Volk vereint hat. [mit lauter orkanhafter Stimme] Wir sind die einzige Partei, die den Charakter und die Persönlichkeit aufweist, einen demokratischen, laizistischen, sozialen Rechtsstaat aufzubauen. So haben wir uns auf den Weg gemacht, so sind wir aufgebrochen. [Jubel] Die Bemühungen, auf dieses unser Werk einen Schatten zu werfen, sind umsonst. Sie fruchten nicht. [emphatisch zitierend] 'Man kann die Sonne nicht mit Lehm verputzen' [Sprichwort im Sinne von: "man kann die Wahrheit nicht verdunkeln"], das sollte man wissen. Und... meine lieben Geschwister, die heiligen Seelen unserer Märtyrer/gefallenen Helden [das türkische Wort kann beides bedeuten] haben diese unsere Städte, diese unsere Erde zu einer gemeinsamen [hier endet die Videoaufzeichnung. Das folgende nach der Dokumentation auf Iki Dakika] Heimat gemacht. Diese Einigkeit, diese Brüderlichkeit werden wir mit Allahs Hilfe niemandem zum Fraß überlassen.

Wir erachten die 70 Millionen Kinder dieser Heimat, jeden Einzelnen, der ein Bürger der Republik Türkei ist, als unsere Brüder, als unser Leib und Leben. Als deren Diener üben wir dieses Amt aus.

"In unserem Land ist das Marmaragebiet anders, der Westen anders, das Mittelmeergebiet anderes, das Ägäisgebiet anders, Mittelanatolien anders, der Mittelanatolien anders, der Südosten anders, der Osten anders, das Schwarzmeergebiet anders..." In unserem Wörterbuch kommt dergleichen nicht vor. Der Dienst, den wir dem Westen erweisen, erweisen wir auch dem Osten. Den Dienst, den wir dem Norden erweisen, erweisen wir auch dem Süden.

Und deshalb, paßt gut auf, haben wir hier in den letzten fünf Jahren, hört gut zu liebe Geschwister, ungefähr 8,5 Billiarden nur für den Südosten und den Osten aufgewendet. Erforscht die 79 Jahre [von der Republikgründung 1923 bis zum Regierungsantritt der AKP 2002] und schaut: ihr werdet solche Zahlen nicht finden. Und alles beginnt, sich zu verändern. Ihr seht es, nicht wahr? Und es wird sich weiter verändern.

[Erdogan sagte darauf, daß mit diesen 8,5 Billiarden Lira auch 46 Tausend Häuser gebaut würden, die großenteils in Privatbesitz überführt werden sollten und fuhr weiter fort:]

Warum tun wir das? Wir wollen, daß sich unsere Städte verändern, daß sie sich verschönern. Daher haben wir diese Schritte unternommen, daher unternehmen wir diese Schritte. Schaut, liebe Geschwister; jetzt haben wir das Südostanatolien-Projekt begonnen, wir machen da weiter, wo man aufgehört hatte. Für dieses Projekt wenden wir 12 bis 15 Billiarden auf. Unser Ziel ist es, dieses Projekt inschallah in 5 Jahren zum Abschluß zu bringen.

Wir werden inschallah den Silvan- und den Cizre-Staudamm, wir werden inschallah Bewässerungskanäle, Beregnungs- und Bewässerungsanlagen bauen. Wir werden die halbfertigen und unvollendeten Straßen, zweispurige Straßen und Autobahnen, in diesen Gegenden fertigbauen.

[Erdogan sagte weiter, man wolle die 780 Kilometer lange minenverseuchte Gebiet an der syrischen Grenze von den Minen säubern und, falls möglich, für biologische Landwirtschaft nutzen. Dann sagte er:]

Alle haben bis heute nur Worte gemacht, die Regierung der AK Partei aber hat Arbeit geleistet und leistet weiterhin Arbeit. Für uns gibt es keinen Aufschub von Versprechungen. In unseren Grundsätzen kommt das nicht vor.


Fußnoten:
*) In Artikel zwei des türkischen Grundgesetzes wird die Republik Türkei wörtlich als "demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat" definiert.
**) Der Alevit Asik Veysel (1894-1973) gilt als der letzte große türkische Volksdichter und -sänger.


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zweites Youtube-Video:

So wie dieser unglückselige Schritt der rechtlichen Grundlage entbehrt, so hat er auch im Gewissen der Nation keinerlei Legitimität. Die, die unsere Nation, obwohl sie das nicht verdient hat, mit solch einer Abwegigkeit, solch einem Schimpf konfrontieren, werden sich aus der Scham darüber nicht mehr retten können. [Applaus, Jubel]

Meine liebe Nation möge sich beruhigen. Wir werden uns der Vertretungsmacht, die ihr uns am 22. Juli [2007, Wahlsieg der AKP] gegeben habt, bis zum Ende widmen. Wir werden nicht zulassen, daß die Errungenschaften, die die Türkei nach langen Jahren jetzt erzielt hat, daß die Sicherheit und die Stabilität zerstört werden.

Tag und Nacht arbeiten wir daran, die Türkei dem Ziel der modernen Zivilisation, welches Atatürk gesetzt hat, näherzubringen; wir bemühen uns, den Lebensstandard unseres Volkes zu erhöhen; - und da kommen welche daher und wollen die Errungenschaften unserer Nation mit einem Schlag zunichte machen? [Applaus] Eine größere Verantwortungslosigkeit kann es nicht geben.

Jeder - jeder sollte gut wissen, daß er für den Schaden, den er dieser Nation, diesem Land zufügt, büßen wird. Werte Geschwister, die Türkei wird den Marsch für Demokratie, den Marsch für Gerechtigkeit und Aufschwungs, den Marsch zur Förderung der Rechte und Freiheiten ohne Zögern fortsetzen.

Schaut, weiterhin sind wir zu einem neuerlichen demokratischen Schritt bereit. Ein Projekt, das wir als die Türkei eigentlich viel zu spät in Angriff nehmen, das schon vor 10 Jahren hätte begonnen werden müssen, werden wir in den kommenden Monaten in die Wege leiten.

Die Türkische Radio und Fernsehgesellschaft hat mit den Arbeiten für einen mehrsprachigen Kanal begonnen, der über Satellit überall in der Welt empfangen werden kann, der aber im besonderen die türkeinahen Gebiete des Irak und des Iran ansprechen wird. Dieser neue Kanal, der auf Kurdisch, Arabisch und Persisch ausgestrahlt werden soll, wird 24 Stunden ununterbrochen auf Sendung sein. [Applaus] Dieser neue Kanal, der Anfang 2009, wenn möglich auch zu einem früheren Zeitpunkt, auf Sendung gehen wird, wird nicht nur in der Türkei, sondern in einem weiten geographischen Bereich, hauptsächlich im Nahen Osten, zu empfangen sein.


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BATMAN

Nach seinem Auftritt in Siirt flog Erdogan in die unweit gelegene Stadt Batman und redete vor einem Kongress der AKP-Parteijugend. Hier Redepassagen, wie sie in der Hürriyet zitiert wurden:
"Genau wie der Volkssänger Veysel sagten wir: 'wir sind auf einem langen schmalen Weg, wir gehen Tag und Nacht.' Seitdem sind etwa sechseinhalb Jahre vergangen. Wir sind auf einem langen, schmalen Weg marschiert. Vor uns tauchten Hindernisse auf, taten sich Schluchten auf, all das haben wir überwunden. Sie werden auch später wieder auftauchen, und wir werden sie wieder überwinden. Denn am 22. Juli haben 16 Millionen 500 Tausend Wähler der AKP ihre Stimme gegeben. Schauen Sie, ich rede nicht von den Familien [mit ihren Kindern], ich rede nur von den Wählern. Kann es sein, daß man den Willen von 16 Millionen und 500 Tausend Menschen mißachtet, kann es so was geben?"

"Was ist das für eine Einstellung, was ist das für ein Verständnis? Man kann nicht ständig das Volk dazu nötigen, die Rechnung derer zu bezahlen, die nicht zu verantwortungsvollem Handeln in der Lage sind. Die, die einen Schatten auf die demokratische Gesinnung, auf das demokratische Ansehen der Türkei werfen, die die nach schwerem Ringen erreichte politische und ökonomische Stabilität geschlossenen Auges aufs Spiel setzen, werden auch die Strafe dafür davontragen. Sie können ihr nicht entkommen. Was für Notlagen hat diese Nation bestanden! Was für einen Preis hat sie für die demokratischen Errungenschaften bezahlt! Sie erhob sich aus den Trümmern der ökonomischen Krisen und ist bis hierher gekommen. Niemand kann dieser Nation ein solches Unrecht zumuten. Das Recht kann nicht auf Mißachtung des Volkswillens errichtet werden. So wie dieser unglückselige Schritt der rechtlichen Grundlage entbehrt, so entbehrt er auch im Spiegel des Gewissens der Nation jeglicher Legitimität. Die unsere Nation, obwohl sie das nicht verdient hat, mit solch einer Abwegigkeit, solch einem Schimpf konfrontieren, werden sich aus der Scham darüber nicht mehr retten können. Ihr seht selbst, wie wir uns der Vertretungsmacht widmen, die ihr uns am 22. Juli an den Wahlurnen gegeben habt. Wir werden uns ihr bis zum Ende widmen."


Hier wird Erdogan von seinen Zuhörern unterbrochen, die in Sprechchören skandieren:

"Schlag zu, schlag zu, bis er stöhnt, Deniz Baykal soll hören"


(Deniz Baykal ist der Vorsitzende der kemalistischen CHP.) Daraufhin sagte Erdogan beschwichtigend:

"Nicht nötig. Es gibt Menschen, die haben Ohren und hören nicht, die haben Augen und sehen nicht, die haben Zungen und sprechen die Wahrheit nicht. Nicht nötig."


Diese Worte wurden von der türkischen Presse als Zitat aus dem Koranvers 7,179 identifiziert, der folgendermaßen lautet:

"Wir haben viele der Dschinn und der Menschen erschaffen, deren Ende die Hölle sein wird! Sie haben Herzen, und sie verstehen nicht; sie haben Augen, und sie sehen nicht; sie haben Ohren, und sie hören nicht. Sie sind wie das Vieh; ja sie sind weit ärger abgeirrt. Sie sind fürwahr unbedacht."


Während derselben Rede rezitierte Erdogan auch die Strophe eines türkischen Liebeslieds, um die liebende Verbundenheit von Volk und Partei, oder vielleicht eher zwischen dem Volk und ihm selbst, Ausdruck zu verleihen. Nach jedem rezitierten Vers wiederholt die Zuhörerschaft im Chor den Vers. Der letzte Vers wird dreimal rezitiert:

Erdogan: Wir wanderten gemeinsam auf diesen Wegen.
Chor der Zuhörer: Wir wanderten gemeinsam auf diesen Wegen.

Erdogan: Wir wurden gemeinsam naß im Regen.
Chor der Zuhörer: Wir wurden gemeinsam naß im Regen.

Erdogan: In allen Liedern, die ich jetzt höre,
Zuhörer: In allen Liedern, die ich jetzt höre,

Erdogan: Erinnert alles uns an euch.
Zuhörer: Erinnert alles uns an euch.

Erdogan: Erinnert alles uns an euch.
Zuhörer: Erinnert alles uns an euch.

Erdogan: Erinnert alles uns an euch.
Zuhörer: Erinnert alles uns an euch.


Die beiden Passagen, die Sprechchöre und die darauffolgende Rezitation der Koranstelle sowie die gemeinsame Rezitation des Liebesgedichts, liegt als kleiner Videoclip auf Youtube.

Diese Gedichtstrophe scheint innerhalb der Erdogan-Bewegung schon länger eine Rolle zu spielen. Sie wurde nämlich, in abgewandelter Form, bereits im Jahre 1998 von Erdogan-Anhängern gesungen, als sie zu Tausenden vor dem Istanbuler Rathaus gegen die Verurteilung Erdogans protestierten, wie in Chrestomathia Erdoganica (3) festgehalten. Damals sangen sie:

"Wir wanderten gemeinsam auf diesen Wegen. Wir wurden gemeinsam naß im Regen. Jetzt geht's der Ministerpräsidentenschaft entgegen."


Erdogan ist ein begnadeter Redner, der stimmlich alle Register ziehen kann und seine Zuhörer magisch in Bann zu ziehen scheint. Und er benutzt immer wieder auch Gedichte. Es gibt einen längeren Essay über Erdogan, in dem gerade auf seine Kunst des Gedichtvortrags eingegangen wird.

Das Gedicht, aus dem Erdogan zitierte, ist kein politisches Gedicht, es ist ein reines Liebesgedicht, das auch vertont ist, also ein Liebeslied. Hier der vollständige Liedtext:

Ich bin umringt von Erinnerungen.
Überall, wohin ich blicke, sind deine Spuren.
Selbst wenn ich nicht an dich denken wollte,
Erinnert alles mich an dich.

Wir wanderten gemeinsam auf diesem Wegen.
Wir wurden gemeinsam naß im Regen.
In allen Liedern, die ich jetzt höre,
Erinnert alles mich an dich.

Wie die Sonne am Himmel an deine Augen,
Wie die aufgeplatzte Erde an meine Sehnsucht,
Wie jedes brennende Feuer an meine Liebe,
Erinnert alles mich an dich.

Wir wanderten gemeinsam auf diesen Wegen.
Wir wurden gemeinsam naß im Regen.
In allen Liedern, die ich jetzt höre,
Erinnert alles mich an dich.

Text: Askin Tuna, Melodie: Seluk Tekay


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MALATYA

Anfang April hielt Erdogan einem Kongress der AKP-Parteijugend Malatya eine Rede. Auf Youtube existiert der Clip einer unverhüllt propagandistischen Nachrichtensendung dazu, in der man Erdogan, untermalt mit feierlicher Orchestermusik reden hören und sehen kann. Im folgenden die Übersetzung der Redeausschnitte:

"Wir sind nicht zum Streit gekommen, wir sind gekommen, um Güte zu bringen, wir sind gekommen, um Liebe zu bringen. Und das werden wir weiter tun. Wir gehören zu denen, die wissen, daß die Geduld grenzenlos ist. Wir sind eine Gruppe, eine Gesellschaft, die diejenigen, die an den Wahlurnen besiegt wurden, nicht mit undemokratischen Methoden bekämpft. Die AK Partei wird niemals ein Akteur mit antidemokratischen Methoden sein. Das müßt ihr wissen. Die AK Partei wird ihren Kampf immer mit demokratischen Methoden führen. [Erdogan ist ins Schwitzen gekommen, zieht die Jacke aus und fährt fort:] Wir werden diesen unseren Kampf fortführen für eine Türkei ohne Diskriminierung, für eine Türkei, in der die Demokratie herrscht, in der die Republik Türkei ein demokratischer, laizistischer, sozialer Rechtsstaat ist. Aber wir werden diesen Kampf genau so weiterführen, geradewegs, ohne nach rechts oder nach links abzuweichen."

"Am 14. August sagten wir mit den Worten Menderes': 'Das Wort gehört der Nation.' Aber wir fügten am selben Tag noch etwas hinzu, wir sagten: 'Das Wort gehört der Nation und die Entscheidung gehört der Nation'. Dies wird in die Geschichte als Basis, als Grundlage der Demokratie eingehen. Ja. In Demokratien gehört sowohl das Wort als auch die Entscheidung der Nation. Was die Nation sagt, das geschieht. Das müssen wir wissen und die, die es nicht wissen, die werden es lernen und werden es wissen. Es wird welche geben, die nicht hören, aber die Hörenden werden es den Nichthörenden erklären. Wir werden, alle Hindernisse überwindend, weitergehen. Die Geschichte ist dafür der offensichtliche Beweis. Die, die diesen Weg einschlugen, die sich auf diesen Weg verlegt haben, die im Dienst für das Volk vorangingen, sind immer mit Hindernissen konfrontiert worden. Viele Vorteilnehmer wollten Hindernisse aufbauen. Denn die Vorteilnehmer haben in der Nation keinen Platz. Sie sind in einem Teufelskreis gefangen."

"Sie hocken in Ankara und sind damit beschäftigt, anderen eine Grube zu graben. Sie denken: 'Wir haben keinen Dienst [an der Nation] geleistet, wir haben die Probleme des Landes nicht gemildert. Dann wollen wir wenigstens denjenigen, die [der Nation] dienen, Hindernisse in den Weg stellen.'"

"Sie wollen ihren eigenen Wahlstimmen ein anderes Gewicht geben als der Wahlstimme meines Mitbürgers aus einem anatolischen Dorf. Sie sind Kreise, die die Demokratie so sehr mißverstehen, daß sie diese Gleichheit in der Demokratie nicht sehen können. Und das Interessante dabei ist: Wenn du in diesem Land sagst: 'Wir werden eins sein, wir werden gemeinsam sein', wird dir vorgeworfen, daß du in die gefährlichste Trompete zur Spaltung der Gesellschaft bläst. Davon kann keine Rede sein! Davon kann keine Rede sein!"

Das Videodokument dieser Nachrichtensendung bringt auch einen Ausschnitt aus Erdogans Ansprache auf einem Kongreß für Unternehmer mit dem Titel "Brücke für den Aufschwung und die Zusammenarbeit in Ostanatolien, 101 Projekte, 1001 Unternehmer" Dort sagte er:

"Wir sind erst am Anfang unserer Arbeit. Das Verfassungsgericht tut seine Arbeit, die 60. Regierung der Republik Türkei [die aktuelle AKP-Regierung] tut ihre Arbeit, das sollten Sie wissen. [soweit das Videodokument, die Internetzeitung NTV-MSNBC zitiert ihn weiter:] Das Ergebnis [des Gerichtsprozesses] mag sein wie es will, es interessiert uns nicht."


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Quellen:

Rede in Siirt:
erstes Video: http://www.youtube.com/watch?v=8q2bhEwIDKA (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
zweites Video: http://www.youtube.com/watch?v=pHObtqJq__Y
(2018: Link ist nicht mehr aktiv)
Transskription eines größeren zusammenhängenden Redeausschnitts: http://www.ikidakika.com/demokrasi-artik-olmazsa-olmazdir/ (2018: Link ist nicht mehr aktiv)

Rede in Batman:
Zeitungsbericht: Hürriyet: http://www.hurriyet.com.tr/gundem/8466963.asp?gid=229&sz=70703
Kurzvideo: http://www.youtube.com/watch?v=Ef6oHKAO6bk (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
Rede in Malatya:
Video: http://www.youtube.com/watch?v=9hI9qG6rPn0 (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
Text auf AKP-Seite: http://www.akparti.org.tr/gnsayfa/haber.asp?haber_id=22899&kategori=8 (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
Ansprache Erdogans auf einem Kongress ostanatolischer Arbeitgeber in Erzurum: http://www.ntvmsnbc.com/news/441842.asp (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
Text des Gedichts "Ich bin umringt von Erinnerungen": http://www.birebir.net/goster.asp?d=beraber+yuruduk+biz+bu+yollarda (2018: Link ist nicht mehr aktiv)
ZEIT 15.05.2008: http://images.zeit.de/text/2008/21/T-rkei3 (2018: Link ist nicht mehr aktiv)

Montag, 9. Juli 2018

Chrestomathia Erdoganica (7) - Intervention des Generalstaatsanwalts

von Corax
zuerst veröffentlicht am 06.06.2008 auf Kewils Blog "Fakten Fiktionen"

Am 14. März 2008 reichte der höchste Staatsanwalt der Türkei, der Generalstaatsanwalt der Republik am Kassationshof Abdurrahman Yalçinkaya, einen Verbotsantrag gegen die Regierungspartei AKP verbunden mit einem Antrag auf Verbot parteipolitischer Tätigkeit für 71 AKP-Politiker, darunter Staatspräsident Abdullah Gül, Ministerpräsident Erdogan und der ehemalige Parlamentspräsident Bülent Arinç, ein.

In seiner 162-seitigen Anklageschrift versucht der Generalstaatsanwalt anhand einer Dokumentation von Aktivitäten und Zitaten von AKP-Politikern nachzuweisen, daß die AKP mit ihrer Politik die Umwandlung der türkischen Republik in einen islamischen Schariastaat betreibe. Im folgenden bringe ich Zitate aus der Anklageschrift, wie sie die Hürriyet am 16. März ihren Lesern unter der Überschrift “Die Demokratie ist das Mittel, das Ziel ist die Scharia” präsentierte. Die von der Hürriyet zitierten Stellen habe ich mit der Anklageschrift verglichen und die entsprechenden Stellen direkt aus dem Original übersetzt (die Hürriyet hatte teilweise leicht gekürzt). Hier die Zitate:

    “Die Möglichkeit, daß […] der politische Islam oder auch das Modell eines gemäßigten Islams, in das man die Türkei einfügen will, sich in einen Schariastaat wandelt, und daß dabei bei Bedarf auch Terror angewandt wird, ist nicht zu unterschätzen. So haben zum Beispiel in der jüngsten Vergangenheit in unserer Region einige Länder, die häufig als Beispiel für eine Übergangsepoche vorgebracht worden waren, später eine ausweglos radikale Veränderung durchgemacht und sich dabei zu radikalreligiösen Staaten gewandelt.”

    “Die [in dieser Anklageschrift] deutlich gemachten Aktivitäten [der beklagten Partei] und insbesondere ihre Gesetzesvorschläge, welche Veränderungen im Grundgesetz und im Hochschulgesetz beinhalten, zeigen ganz klar die Absicht, den Boden für eine Veränderung der fundamentalen Prinzipien der Republik Türkei zu bereiten.”

    “Wenn man beachtet, daß eine politische Partei, die eine Brutstätte von gegen das laizistische Rechtssystem gerichteten Aktivitäten darstellt, auch noch eine Mehrheitsregierung stellt, sieht man, daß eine Gefahr im Sinne einer Verwirklichung des angestrebten Modells [der Scharia] besteht, daß diese Gefahr hinreichend nah ist, daß die Aktivitäten der beklagten Partei geeignet sind, das anvisierte Gesellschaftssystem zu errichten, und daß das Risiko jeden weiteren Tag ihrer Regierung wächst.”

    “Die Deklarationen bezüglich der Freigebung des Kopftuchs in öffentlich-staatlichen Räumen und im Türkischen Parlament sowie die Initiativen zur Abschaffung des auf die Absolventen der Imam-Hatip-Gymnasien angewandten Koeffizientensystems(1) macht diese Gefahr noch konkreter und dringlicher. Es kann natürlich nicht in Frage kommen, hinzuwarten, bis die beklagte Partei den gesellschaftlichen Frieden in Gefahr bringt und das anvisierte Modell verwirklicht hat.”

    “Die einzige und zwingende, auch in sozialer Hinsicht erforderliche Methode, um die beklagte politische Partei von ihrem Ziel abzubringen, ist nur die Sanktion einer Parteischließung, es bleibt keine andere Möglichkeit, um die Gesellschaft vor der Gefahr zu beschützen, der sie gegenübersteht. Die Aktualisierung der Werte des Systems, das mit der Gründung der Republik abgeschafft wurde, wird im Hinblick auf das demokratische System und die demokratische Gesellschaft unvermeidlich zu sehr schwerwiegenden Folgen für die laizistische Grundordnung und deren Verteidigung führen.”

    “Es kann nicht behauptet werden, daß ein Verbot einer politischen Partei, die mit ihren Aktivitäten (insbesondere mit der Änderung der Artikel 10 und 42 des Grundgesetzes(2), und der Änderung des Zusatzartikels 17 des Hochschulgesetzes(3), welche auf indirektem Wege das laizistische Prinzips beseitigen würden) in offener Weise die Verwirklichung des islamischen Systems betreibt, den zwingenden sozialen Erfordernissen und den Voraussetzungen der demokratischen Gesellschaft zuwiderläuft, daß es abstrakt, unplausibel und unausführbar sei. Denn für eine politische Partei, welche die Möglichkeiten der Regierungsmacht ausschöpft, ist die Konkretisierung dieser Angelegenheiten gleichbedeutend mit einer Abschaffung des demokratischen Systems. Wenn daher die Scharia, d.h. die Gewalt, erst einmal konkret geworden ist, wird von einem demokratischen System, das versucht, sich selbst zu schützen, keine Rede mehr sein können.”

    “Es steht fest, daß [die beklagte Partei] entschlossen ist, die laizistische Republik in eine neue Lebens- und Staatsordnung zu überführen, daß sie beginnt, die Gesellschaft in Fromme und Nichtfromme zu spalten, daß sie daraufhin arbeitet, das laizistische Rechtssystem des Landes etappenweise neu zu formen, daß sie eine Debatte um die Zukunft der Staatsform und der Republik eröffnet hat.”

    “Wenn das Prinzip des Laizismus, welches eine Vorgabe des Grundgesetzes ist, die nicht verändert werden darf, und deren Abänderung nicht vorgeschlagen werden kann, beschädigt wird, tritt die Zuständigkeit und die Pflicht der Generalstaatsanwaltschaft der Republik am Kassationshofs zum Schutz des politischen Systems des Staates in Kraft. Die grundlegende Aufgabe der Generalstaatsanwaltschaft der Republik am Kassationshof ist, die Republik, ihre Prinzipien und ihre Errungenschaften zu schützen.”

    “Es wurde erkannt, daß das Endziel der politischen islamistischen Strömungen in der Türkei und der mit ihrer Politik auf denselben Grundlagen beruhenden beklagten Partei darin besteht, anstelle des Rechtsstaats ein auf religiösen Fundamenten beruhendes Staatssystem (Scharia) zu errichten. Sie haben mit eigenen Aussagen erklärt, daß sie bis zur Erreichung dieses Ziels die Methoden der “Takiyya” anwenden werden. Ihr Rat zu Geduld und Zurückhaltung gegenüber dem Druck ihrer [Partei]Basis ist ein Zeichen dafür.”

    “In diesem Zusammenhang wurden Parteien, die sich nicht an das Prinzip des Laizismus, das eine Grundlage der im Grundgesetz festgelegten freiheitlichen demokratischen Ordnung darstellt, hielten, mit anderen Worten antilaizistische Parteien, verboten, und man hat sich in diesen Fällen die Sanktion der Parteischließung zu Eigen gemacht. Dieses Verbot, diese Sanktion ist, wenn man die möglichen Gefahren für das laizistische Staatssystem in Betracht zieht, in gleichem Maße legal und rechtmäßig wie ein Verbot der Nazipartei in Deutschland und Österreich und der faschistischen Partei in Italien.”

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Anmerkungen:

1)
Ein “Koeffizientensystem” regelt den Zugang zu den Hochschulen. Bei diesem Verfahren werden Abgänger der Imam-Hatip-Gymnasien, die ursprünglich nur Imame und Prediger ausbildeten, mittlerweile aber neben den religiösen Fächern im selben Umfang unterrichten wie normale Gymnasien, benachteiligt. Die AKP wollte den Hochschulzugang 2004 neu regeln, um Imam-Hatip-Abgänger ungehinderten Hochschulzugang zu verschaffen, wurde aber durch das Veto des damaligen kemalistischen Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer daran gehindert. (Quelle: Die Neue Ordnung)

2)
Absatz 10 des Grundgesetzes handelt von der Gleichheit vor dem Gesetz. Der erste Absatz lautet:

“Jeder ist vor dem Gesetz ohne Unterschied aus Gründen der Sprache, der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, des politischen Denkens, der philosophischen Überzeugung, der Religion, der Konfession oder Ähnlichem gleich.”

Der letzte Absatz lautete:

“Die Staatsorgane und die Regierungsstellen müssen sich in allen Amtsgeschäften nach den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz richten.”

Dieser letzte Absatz wurde durch einen Zusatz und eine Änderung modifiziert und lautete vom 22. Februar bis zum 5. Juni 2008 (Zusatz, Änderung kursiv):

“Die Staatsorgane und die Regierungsstellen müssen sich in allen Amtsgeschäften und bei jedweder Inanspruchnahme öffentlicher Dienste nach dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz richten.”

Absatz 42 handelt vom Recht auf Bildung und von der allgemeinen Schulpflicht.

Sein erster Absatz lautete:

“Niemandem darf das Recht auf Bildung benommen werden.”

Der zweite Absatz:

“Der Umfang des Rechts auf Bildung wird durch das Gesetz bestimmt und festgesetzt.”

Die Änderung besteht aus einem neuen zusätzlichen Absatz, worin es um das Recht auf Hochschulbildung geht. Dieser neue Zusatzartikel nimmt den Inhalt von Artikel 1 und 2 auf, mit zwei entscheidenden Zusätzen (Zusätze kursiv):

“Niemandem darf aus Gründen, die im Gesetz nicht klar niedergelegt sind, das Recht auf Hochschulbildung benommen werden. Die Grenzen der Ausübung dieses Rechts werden durch das Gesetz bestimmt und festgesetzt.”

Diese Änderungen zielten auf eine Aufhebung des Kopftuchverbots an Hochschulen. Dieses Verbot ist nämlich in keinem Gesetz niedergelegt. Vielmehr beruht es auf einem “Verfassungsgerichtsurteil, wonach Kopftücher an staatlichen Einrichtungen den säkulären Grundlagen der Republik widersprechen.” (WELT)

Gegen diese beiden Grundgesetzänderungen hatten die kemalistische Partei CHP (Republikanische Volkspartei) und die DSP (Demokratische Linkspartei) beim Verfassungsgericht geklagt. Dieses hat daraufhin am 5. Juni 2008 diese Änderungen wieder aufgehoben, weil sie den laizistischen Prinzipien der Republik widerprächen.

Eine kurze prägnante Darlegung der Gründe für das Urteil des Verfassungsgericht findet sich in dem bereits zitierten WELT-Artikel:

“Die Richter befanden, dass die Gesetzesänderungen der AKP gegen Artikel 2, 4 und 148 der Verfassung verstossen. Artikel 2 besagt, dass die Türkei ein säkulärer, demokratischer Sozialstaat ist. Artikel 4 betont, dass Artikel 2 nicht geändert werden kann. Artikel 148 handelt von den Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts.”

3)
Im Zusatzartikel 17 des Hochschulgesetzes wird erklärt, daß jedwede Kleidung beim Besuch von Hochschulen erlaubt ist, es sei denn die Kleidung verstoße gegen ein bestehendes Gesetz. Die AKP wollte diesen Zusatzartikel um eine ausdrückliche Erlaubnis des Tragens von Kopftüchern, soweit sie das Gesicht freilassen und unter dem Kinn zusammengehalten sind, erweitern. Sie kam mit diesem Gesetzesvorhaben aber nicht durch.

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Türkische Quellen:
Zitate aus der Anklageschrift: Hürriyet 16.03.2008: http://www.hurriyet.com.tr/gundem/8468722.asp
Der gesamte Text der Ankageschrift hier als WORD-Dokument [2018: Link offensichtlich nicht mehr aktiv]
Wortlaut der Grundgesetzartikel und ihrer Änderungen, Wortlaut des Zusatzartikels 17 des Hoschschulgesetzes und seiner geplanten Änderung: Stargazete 06.02.2008 [2018: Link nicht mehr aktiv]
Deutsche Quellen:
WELT 05.06.08
Die Neue Ordnung 1/2006

Freitag, 6. Juli 2018

Chrestomathia Erdoganica (6) - Vom Imam zum Takiyya-Meister

von Corax
zuerst veröffentlicht auf Kewils Blog "Fakten Fiktionen" 16.05.2008

Wie in Chrestomathia Erdoganica (1) dokumentiert, hatte Erdogan im Jahre 1996 in einem Interview mit einer türkischen Pressejournalistin Aussagen getroffen, aus denen sich eindeutig schließen läßt, daß er die Demokratie als ein Mittel zur Errichtung einer schariatischen Staatsordnung betrachtete.

Wie man sich denken kann, drückte sich Erdogan in trautem Kreis unter Gleichgesinnten noch deutlicher aus, wie ein Videoclip von einer Ansprache zeigt, die Erdogan im Jahre 1997 in Toronto vor einer amerikanischen muslimischen Jugendorganisation, der MAYA (”Muslim American Youth Association”), hielt. Der Videoclip liegt auf Youtube vor.

Hier die Übersetzung:

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“Das Morgengrauen einer Religion bricht an und dieses Morgengrauen drängt die Menschen dazu, darüber nachzudenken, welche Dinge wohl dieses neue Morgengrauen bringen wird.

Die modernen Ruinen der industriellen Zivilisationen verschwinden, und in Sorge darüber, was wohl unter diesen Ruinen hervortreten mag, erwartet die Menschheit ein neues Szenario, eine neue, unter den Ruinen hervorkommende Epoche.

Denn unter diesen Ruinen wird eine neue Zivilisation hervorkommen, und ich bin davon überzeugt: das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert sein, in dem die Zivilisation des Islams vorherrschen wird. [Zuhörer: dreimal Allahu akbar]

Niemand wird die Welle dieser Zivilisation aufhalten können.

Und alle, die sich an der Welle dieser neuen Zivilisation beteiligen, werden dafür überreichlichen Gotteslohn noch und noch erhalten.

Und wir müssen auch dies wissen: Alle, die sich an der ehrenvollen Aufstieg dieser neuen Zivilisation, der Zivilisation des Islams, nicht beteiligen, werden dazu verurteilt sein, in Erniedrigung zu leben.

Und die Muselmanen werden diese ihnen anvertraute Aufgabe wieder da aufnehmen, wo sie sie liegen gelassen hatten - müssen sie wieder aufnehmen. [Zuhörer: Allahu akbar]

Und in den letzten Zeiten, in den letzten Zeiten des 20. Jahrhunderts, wurden Verträge, Abkommen unterschrieben.

Und in diesen Abkommen geht es um Demokratie, um Menschenrechte, um freie Marktwirtschaft.

Gut, aber welche Demokratie?

Soll diese Demokratie Ziel oder Mittel sein?

Genau das muß diskutiert werden.

Aus unserer Sicht kann Demokratie niemals Ziel sein. Wenn wir Demokratie wissenschaftlich betrachten, sehen wir, daß sie ein Mittel ist.

Wenn die Demokratie die Manifestation des Volkswillens ist, ist es ein Mittel, damit als ihr Ergebnis das hervortritt, was das Volk will.

Daher müssen diejenigen, die sagen, daß sie an die Demokratie glauben, sich auch ihrem Ergebnis fügen.

Aber in gewissen Gegenden tun sie das nicht.

Sie sagen, sie glaubten an die Demokratie, aber sie fügen sich nicht ihrem Ergebnis.”


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Zu seiner Einschätzung der Demokratie als eines Mittels und nicht eines Ziels der Politik steht Erdogan auch heute noch. Allerdings entschärft er seine Aussage, indem er nun auch die Religion zu einem Mittel statt einem Ziel erklärt. So sagte er im Frühjahr 2007 auf einem Kongreß des Internationalen Presse-Instituts gegenüber ausländischen Journalisten:

“Alle Systeme sind ein Mittel. Die Demokratie ist ein Mittel, der Laizismus ist ein Mittel, auch die Religionen sind ein Mittel. Das Ziel ist das Glück der Menschen. Können Sie mir einen Gelehrten zeigen, der die Demokratie ein Ziel nennt? Das können Sie nicht. So etwas gibt es nicht. In der Türkei gibt es Leute, die sagen: ‘Tayyip Erdogan hat das gesagt’, und mich deswegen angreifen. Aber so denke ich.”


Es ist unschwer zu erkennen, daß Erdogan mit dieser Aussage Takiyya betreibt. Ein Moslem, der den Islam ernst nimmt, und das darf man im Falle Erdogans voraussetzen, kann den Islam nicht einem höheren Zweck als Mittel unterordnen. Und erst recht wird er den Islam nicht als eine von vielen Religionen, die alle gleichermaßen als Mittel zur Erreichung desselben Ziels dienten, verstehen. Dies ernsthaft zu glauben und zu bekennen, gilt innerhalb des Islams als kufr, als Verleugnung des Glaubens. Erdogan betätigt sich aber, indem er diese Aussagen vor der Weltöffentlichkeit trifft, nicht als Prediger, als Imam oder als Glaubensbekenner, sondern als Politiker, der den Gegner täuscht, zu einem Ziel, das er verbirgt. Er begeht also keinen Kufr, sondern übt Takiyya aus.

1994 sagte er im trauten Kreis seiner Anhänger (dokumentiert in Chrestomathia Erdoganica (4)):

"Andauernd sagen sie: ‘Der Laizismus geht verloren, der Laizismus geht verloren!’ Ja, wenn diese Nation es so will, wird der Laizismus selbstverständlich verloren gehen. Das ist nicht zu verhindern. Man kann diese Nation nicht mit Zwang unter Kontrolle halten. Der Nation zum Trotz läuft das sowieso nicht.”

“Man kann nicht gleichzeitig laizistisch und muselmanisch sein! Entweder bist du Muselmane oder laizistisch!

Wenn man beides zugleich ist, ist das so, wie wenn zwei Magnete sich gegenseitig abstoßen! Beides zugleich zu sein, ist ein Ding der Unmöglichkeit! Und weil dem so ist, kann niemand, der sich Muselmane nennt, zur Seite gehen und sagen: “Ich bin gleichzeitig auch laizistisch”. Warum? Weil Allah, der Schöpfer des Muselmanen, definitiv die Souveränität besitzt!”


Im Jahre 2007 dagegen gibt er sich geradezu als Anwalt des Laizismus. Auf dem besagten Kongreß des Internationalen Presse-Instituts sagte er (Videoclip auf Youtube; der letzte Satz aus ‘Güncel Haber’):

“Der Laizismus ist keine Religion, der Islam ist eine Religion. Wir messen Laizismus und Religion nicht mit derselben Meßlatte. Als wir aufbrachen, sagten wir, die AKP ist keine religionszentrierte Partei, sondern eine menschenzentrierte Partei. […] Ich sage es ganz deutlich. Erstens: Der Laizismus wahrt zu allen Glaubensüberzeugungen die gleiche Distanz. Und er ist die Garantie für alle Glaubensüberzeugungen. [Zweitens:] Eine Person kann nicht laizistisch sein. Nur der Staat kann laizistisch sein. Gut, wenn jemand von sich sagt, er sei laizistisch, weil er einen laizistischen Staat verteidigt, ist das in diesem Sinne in Ordnung. Aber wenn Sie den Laizismus als eine antiislamische Haltung hinstellen, begehen Sie einen Fehler. Das ist es, was ich erklären wollte. Ich vermische diese beiden Dinge nicht.”

“Wir sind alle für Demokratie und Laizismus. Davon weichen wir nicht ab.”


Wenn der Laizismus wirklich die Garantie für alle Religionen sein soll, wie Erdogan hier erklärt, dann sollte z.B. das Christentum in der Türkei dieselben Freiheiten haben wie der Islam, sollten Kirchen mit derselben Selbstverständlichkeit gebaut werden dürfen wie Moscheen, sollte christliche Mission genauso selbstverständlich sein, wie islamische Dawa, sollte der Verkauf und der Genuß von Alkohol, die Produktion und der Genuß von Schweinefleisch genauso selbstverständlich sein, wie die Produktion und der Genuß von Tee und Halalfleisch. All dies trifft aber nicht zu, und die AKP ist alles andere als eine politische Partei, die sich für die Gleichberechtigung des Christentums oder die Selbstverständlichkeit des Verkaufs und des Konsums von Alkohol oder Schweinefleisch einsetzt.Diese Worte Erdogans sind also nichts als entgegenkommendes Wortgeklingel, um seine Gegner und den ahnungslosen Westen an der Nase herumzuführen.

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Quellen:
Erdogans Ansprache vor der MAYA in Tronto 1997: Video auf Youtube
Interview mit Erdogan im Jahre 2007 (Kongreß des ‘International Press-Institute’): Güncel Haber [2018: Link ist nicht mehr aktiv]
Videoclip aus diesem Interview (Erdogan über Laizismus): Video auf Youtube

Chrestomathia Erdoganica (5) - "Ich habe mich verändert"

von Corax
zuerst veröffentlicht am 07.05.2008 auf Kewils Blog "Fakten Fiktionen"

Nach dem Verbot der Tugendpartei im Jahre 2001 gründete Erdogan mit politischen Freunden am 14. August 2001 die AKP, die "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung", die sich von den islamistischen Vorgängerparteien absetzte.

Und Erdogan setzte sich von seinem Vorgänger-Ich ab, beteuernd: "Ich habe mich verändert."

Aber nicht jedem erschien diese Wandlung glaubhaft. Erst recht, als eine Woche nach der Parteigründung eine sieben Jahre alte Parteirede Erdogans auftauchte, in Fernsehen und Presse verbreitet wurde und der Öffentlichkeit die Radikalität seiner damaligen schariatischen Agenda ungeschminkt vor Augen führte (dokumentiert in Chrestomathia Erdoganica 4). Die Frage, die sich viele Türken bis heute stellen: Ist diese alte Agenda weiterhin aktuell, oder haben sich Erdogan und seine Mitstreiter wirklich gewandelt? Gibt es einen Geheimplan zur Errichtung eines Schariastaates, oder ist Erdogans AKP doch nur eine harmlose wertkonservative Partei im demokratischen Graubereich? Sieht Erdogan weiterhin in der Demokratie eine Straßenbahn, aus der man aussteigt, wenn man sein Ziel erreicht hat, oder ist er jetzt zum Straßenbahnführer mutiert, der penipel Fahrplan und Straßenverkehrsordnung einhält?

Der Journalist Hasan Cemal (von dem wir im ersten Teil dieser Chrestomathie schon eine frühere Kolumne übersetzt haben) schrieb dazu am 29. August 2001, also zwei Wochen nach der Gründung der AKP, folgende Kolumne in der Milliyet:

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Hat sich Tayyip Erdogan nun verändert oder nicht?

von Hasan Cemal [Übersetzung: Corax]

Der zweiwöchige Urlaub ist nun auch vorüber, aber das Thema ist noch immer aktuell. Hat sich Tayyip Erdogan verändert oder nicht? Betreibt er Takiyya oder nicht? Angenommen er hat sich verändert, warum gibt er aber dann auf manche Fragen keine Antworten? Angenommen er betreibt keine Takiyya, warum kritisiert er dann nicht seine Vergangenheit? Begnügt er sich damit, einfach nur zu sagen: "Ich habe mich verändert"?
Etwa weil es ihm einfach zum Hals heraushängt?
Nein.
Recep Tayyip Erdogan ist kein gewöhnlicher Bürger. Er hat die politische Bühne betreten, um die Türkei zu regieren. Deshalb hat er die AKP gegründet und sich an ihre Spitze gestellt.
Aber falls er sich verändert hat, so tut er doch überhaupt nichts, um zu erklären, warum und wie er sich verändert hat. Er weicht weiterhin den Fragen aus. Dabei hat er mich quasi als seinen Referenzpunkt herangezogen. Als ich im Urlaub war, sagte er in einem Interview, das er Tuncay Özkan im Flugzeug gab, folgendes:

"Ist Hasan Cemal derselbe Hasan Cemal wie im Jahr 1968? Hasan Cemal hat sich verändert, und ich soll mich nicht verändert haben? Auch ich habe mich verändert. Für den Menschen ist das Alter von 40 Jahren das Alter, in dem er zur Reife gelangt. Es ist das Alter, in dem man die Dinge vernünftiger betrachtet und sich nicht mehr von seinen Gefühlen abhängig macht. Auch ich bin in meinem Leben an diesen Punkt gelangt. Und dabei habe ich mich natürlich auch verändert."
Das sagte Tayyip Erdogan.

Ja, ich habe mich verändert.
Nach dem Militärputsch vom 12. März [1971], also vor 30 Jahren, begannen sich meine politischen Ansichten zu ändern.
Zuvor hatte ich die Demokratie nicht gut gefunden.
Seitdem glaube ich, daß die Mehrparteiendemokratie der einzige Ausweg ist. Aber ich begnügte mich nicht damit, nur zu sagen: "Ich habe mich verändert." Ich setzte mich hin und schrieb ein Buch darüber. Ich erklärte, warum und wie ich mich verändert hatte. Ich legte die Fehler dar, die ich in der Vergangenheit gemacht hatte. Ich bemühte mich, alles eins ums andere durch das Sieb der Kritik gehen zu lassen. Ich bemühte mich, zu den geistigen Quellen dieser Veränderung vorzustoßen.
Ich schrieb dies in der Hoffnung, daß es für spätere Generationen eine Lehre darstellen könnte. Ich verarbeitete die Veränderung meiner politischen Persönlichkeit in einem Buch, um einen kleinen Beitrag zur Entwicklung der in diesem Lande sehr ungenügenden demokratischen Kultur zu leisten.

Gut, und was tut Erdogan?
"Ich habe mich verändert!"
Und einige verschwurbelte Erklärungen.
Das ist schon alles.
Daher kann er auch nicht überzeugend sein. Der Verdacht, daß er Takiyya betreibt, wird dadurch verstärkt. Und dann gibt es noch die Aussagen, die er 1994, 1995 und 1996 gemacht hatte, von denen es Tonband- oder Videoaufzeichnungen gibt.
Wenn jemand erst gestern solche Worte geschwungen hat und heute die politische Bühne, mit dem Anspruch betritt, die Türkei zu regieren, fragt man ihn natürlich, was das alles zu bedeuten hat.
Die Vergangenheit eines Politikers wird hinterfragt. Ein Politiker muß über seine Vergangenheit Rechenschaft ablegen. Und erst recht die Vergangenheit eines Mannes wie Tayyip kann nicht geheim und versteckt bleiben.

1995 [in Wirklichkeit 1994]:
Auf der Eröffnungsveranstaltung [eines neuen Parteigebäudes] des Ümraniye-Ortsverbands der Wohlfahrtspartei sagte er:
- "Zu sagen, daß die Souveränität bedingungslos der Nation gehört, ist eine kolossale Lüge!"
- "Die Souveränität besitzt definitiv Allah."
- "Andauernd sagen sie: 'Der Laizismus geht verloren!' Wenn diese Nation es so will, wird der Laizismus selbstverständlich verloren gehen. Da kann man nichts dagegen tun."
- "Die Welt des Islams mit seinen anderthalb Milliarden Menschen wartet darauf, daß die Muselmanische Türkische Nation sich erhebt. Wir werden uns erheben. Das Licht ist schon wahrnehmbar. Diese Auferstehung wird beginnen."
Diese Worte sind sechs Jahre alt.

14. Juli 1996:
In der Milliyet erscheint ein Interview mit Tayyip Erdogan, das Nilgün Cerrahoglu auf Band aufgenommen hatte.
Frage: "In dem Interview, das ich mit Abdullah Gül gemacht hatte, hatte er gesagt: 'Wenn wir an die Regierung kommen, werden Gesetze, die dem Islam widersprechen, abgeschafft.' Wird das so kommen?"
Tayyip Erdogan: "Die Wohlfahrtspartei ist nicht die Religion. Sie ist nicht mit dem Islam gleichzusetzen. Aber ihre Referenz ist der Islam. Wir wollen nichts tun und nichts leben, was unserer Referenz zuwiderläuft."
Frage: "Werden Gesetze, die Ihrer Referenz zuwiderlaufen, abgeschafft werden?"
Tayyip Erdogan: "Natürlich. Auch die Gesetze sind menschengemacht."
Im selben Milliyet-Interview sagte er:
"Bislang ist noch keine Partei aufgetreten, die die Demokratie so versteht wie wir, die sie so lebt und sich anstrengt, sie so zu beleben, wie wir. Aber ist die Demokratie Ziel oder Mittel? Nun, hier haben wir eine andere Auffassung. Wir sagen, die Demokratie ist ein Mittel. Die Demokratie ist kein Ziel."

Sollen wir jetzt keine Fragen stellen dürfen?
Wollten Sie ein schariatisches System? Wollten Sie, daß in staatlichen Angelegenheiten die Regeln der Religion gelten? Haben Sie sich gegen die Gleichheit von Mann und Frau im dem Erb- und Handelsrecht ausgesprochen? Haben Sie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, welche ein Grundstein der laizistischen demokratischen Republik darstellt, angegriffen? Haben Sie die osmanische Epoche zurückersehnt?
Haben Sie Atatürk nicht geliebt?
Waren Sie von der Revolution Chomeinis begeistert?
Haben Sie geplant, eine ähnliches System wie im Iran in der Türkei über die Wahlurnen zu errichten? War das der Grund, warum Sie gesagt haben: "Die Demokratie ist kein Ziel, sondern ein Mittel"? Haben Sie die Demokratie als Zwischenstation betrachtet?

War das der Grund, warum sie gesagt haben: "Meine Referenz ist der Islam, alles was ihm widerspricht, wird sich ändern!"?

Verehrter Tayyip Erdogan,
Wenn Sie noch vor sieben Jahren so gedacht hatten und sich jetzt verändert haben, sollten Sie wenigstens all diese und ähnliche Fragen im Fernsehen eine nach der anderen ehrlich beantworten und mit Leuten diskutieren, die es anders sehen als Sie.
Schauen Sie, ich habe mich auch nicht damit begnügt, ein Buch zu schreiben. Ich bin in öffentlichen Veranstaltungen und vor Fernsehkameras aufgetreten und habe mich bemüht, die Fragen von Leuten zu beantworten, die böse auf mich waren. Einmal hatten sie mich bis Mitternacht in "Hulkis Walnußschale" [eine TV-Sendung] fast gekreuzigt. Aber ich bin ihren Fragen trotzdem nicht aus dem Weg gegangen.
Und was ist mit Ihnen?
Sie setzen alles daran, die Türkei zu regieren, verbergen aber Ihre Vergangenheit. Das geht nicht, indem man einfach nur sagt: "Ich habe mich verändert!"
Sie können nicht damit überzeugen, wenn Sie nur sagen "Hasan Cemal hat sich doch auch verändert; habe ich dann nicht auch ein Recht, mich zu verändern?" Wenn man keine Rechenschaft für das abgeben kann, was vor fünf, sechs Jahren war, werden die Leute einen fragen:
"Hast du Angst vor deiner Vergangenheit?
Oder scheust du dich davor, zu lügen?"

* * *

Soll das ein Gedankenpolizeiverhör werden?
Keineswegs.
Ich glaube daran, daß Menschen sich verändern können. Ich bin dafür, daß jeder so offen wie nur möglich seine Gedanken verteidigen kann. Und ich bin auch dagegen, daß Menschen wegen ihrer Gedanken ins Gefängnis geworfen werden. So hatte ich auch kritisiert, daß Tayyip Erdogan wegen eines Gedichts ins Gefängnis gehen mußte und mit einem lebenslänglichen Politikverbot bestraft wurde.
In Demokratien darf es keine "Gedankenverbrechen" geben.
Aber noch etwas anders darf es in Demokratien auch nicht geben: Personen, die die politische Bühne betreten, um das Land zu regieren, dürfen, von ihrem Privatleben abgesehen, keine Geheimnisse haben. Denn Offenheit und Transparenz sind das Siegel der Demokratie.

Verehrter Tayyip Erdogan,
Wenn Sie sagen, daß Sie sich verändert haben, und wenn Sie in der Politik überzeugend sein wollen, dann warten die Menschen vor den Fernsehbildschirmen auf Sie. Weichen Sie den Fragen nicht aus. Kommen Sie und geben Sie Antwort. Sprechen Sie mit Menschen, die anders denken als Sie; sprechen Sie mit Menschen, die böse auf Sie sind; diskutieren Sie mit Ihnen.
Versuchen Sie's!

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Quelle (türkisch): Milliyet vom 29.08.2001

Donnerstag, 5. Juli 2018

Chrestomathia Erdoganica (4) - Der Imam von Istanbul

von Corax
zuerst veröffentlicht 30.04.2008 auf Kewils Blog "Fakten - Fiktionen"


Erdogan hatte in jungen Jahren, als er noch Fußball spielte, den Spitznamen „Imam Beckenbauer”. Als er in den 90er Jahren Oberbürgermeister von Istanbul war, nannte er sich selbst „der Imam von Istanbul”. Er wurde diesem Namen gerecht, wie wir im folgenden sehen werden.

Im Juni 2001 wurde die Tugendpartei, die Nachfolgepartei der 1998 verbotenen Wohlfahrtspartei Necmettin Erbakans, ebenfalls verboten.

Danach kam es zu einer Spaltung oder Verzweigung: Es entstanden zwei neue Islamparteien: Die „Partei der Glückseligkeit”, die der islamischen Agenda auch nach außen hin treu bleibt, und die AKP, die sich gemäßigt, demokratisch, europafreundlich gibt.

AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi) bedeutet „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung”. Sie wird auch „AK Parti” genannt, was „weiße/reine Partei” bedeutet. Ihr Parteiemblem ist eine Glühbirne. Ein vielschichtiges Symbol. Die Glühbirne steht einerseits für „Aufschwung” (Wirtschaft), auch für „Aufklärung” (das türkische Wort für „Beleuchtung” hat auch die übertragene Bedeutung „Aufklärung”), aber es spielt auch, mehr oder weniger versteckt, auf die islamische Lichtmetaphorik an: das Licht Allahs.

Die AKP wurde von Erdogan am 14. August 2001 gegründet, etwa zwei Jahre, nachdem er seine Gefängnisstrafe wegen islamistischer Volksverhetzung verbüßt hatte. Erdogan beteuerte nun:

„Ich habe mich verändert”.

Eine Woche nach der Gründung der AKP strahlte der Fernsehsender Kanal D Videoaufnahmen einer Rede aus, die Erdogan sieben Jahre zuvor, Ende 1994, er war gerade neuer Oberbürgermeister von Istanbul,vor Parteimitgliedern anläßlich der Einweihung eines neuen Parteigebäudes gehalten hatte. Tags darauf, am 21. August 2001, brachten alle türkischen Mainstreamzeitungen Ausschnitte aus dieser Rede als große Sensation. (Die Milliyet titelte: „Sieben Jahre alte Worte, aber wie ein Erdbeben der Stärke sieben”.)

Also sprach der Imam von Istanbul:

*
* *

Das grüne Licht leuchtet schon

    Der erste November [Kommunalwahlen von 1994] ist der Name für einen Wendepunkt. Es ist nicht der Sieg. Der Sieg wird so nicht errungen. Wir sind noch immer auf dem Weg. Ich bin überzeugt: Das grüne Licht zeigt sich bereits. Aber ihr müßt wissen, bis dahin wird es noch viele Zeichen geben. Aber ich bin überzeugt: Der Sieg wird dank Allahs Güte früher oder später unser sein. Denn so ist die göttliche Offenbarung. Deren Zeichen sind zu sehen. (Quelle: Hürriyet)


Auferstehung der Muselmanischen Türkischen Nation

    Die Welt des Islams mit seinen anderthalb Milliarden Menschen wartet darauf, daß die Muselmanische Türkische Nation sich erhebt. Wir werden uns erheben. In diesem Moment zeigt sich das Licht dieser Erhebung. Diese Auferstehung wird mit Allahs Hilfe beginnen. Du mußt rennen, du mußt arbeiten. Wenn du keine Mühen auf dich nimmst, wird sie nicht kommen. Wenn eure Kinder, euer Besitz, eure Ehefrauen euch von dieser Sache, von dieser Anstrengung abhalten, braucht ihr auf diesen Sieg nicht zu warten, meine lieben Geschwister. Das mußt du überwinden. An dem Tag, an dem wir es überwunden haben, wird das Licht des Sieges uns nahe sein. Und dann wird Gott sein Licht vollenden. (Quelle: Hürriyet)


Das Drehbuch wird ausgetauscht

    Wird es wie in Algerien kommen? Nichts dergleichen wird passieren. Mit Allahs Hilfe kommen wir, indem wir sie beharrlich dazu bringen, sich anzupassen. Jetzt hat die Nation nicht mehr bloß ein Interesse daran, die Schauspieler, sondern auch das Drehbuch auszutauschen. Und diese Arbeit hier besteht darin, dieses Drehbuch auszutauschen. Wir können nicht die Beschützer dieses Systems sein. Denn dieses System ist tyrannisch. (Quelle: Radikal)


Die Feuerzange zur Abschaffung des Systems

    Sie suchen den Terror immer noch im Cudi-Gebirge. Sie suchen den Terror im Nordirak. Aber der Terror ist im Parlament, im Parlament, Menschenskind! Der Terror ist im Kabinett. Dort müßt ihr das Problem lösen. Liebe Geschwister, wenn eine Feuerzange da ist, werden wir nicht ins Feuer zu greifen. Deshalb werden diejenigen, die diese Gesetze gemacht haben, so Allah will, die Feuerzange zur Beseitigung dieses Systems sein. Inshallah. Ja, sie werden die Feuerzange dazu sein. Schaut, der Mensch macht selbst seinen Götzen, stellt ihn selbst auf, betet ihn selbst an, und dann wird er ihn auch selbst umstürzen.” (Quelle: Hürriyet)


Das Militär ist auf unserer Seite

    Das ganze Heer ist auf der Linie der Wohlfahrtspartei. Das behaupte ich. Unser Vorsitzender, der verehrte Erbakan, besuchte den Generalstab und die Befehlshaber der Streitkräfte. Sie drückten sich genau so aus: Wir denken wie Sie. Wir haben unser Militär zur Bewahrung der Unabhängigkeit dieser Nation. Nicht um Diener und Sklave der NATO zu sein. Es fehlt aber eine Autorität, die das zum Ausdruck bringt. So Allah will, wird diese Autorität mit dem Gerechten System kommen. (Quelle: Radikal)


Wir denken nicht daran, der EU beizutreten

    Sie schicken 100.000 Tonnen Weizen nach Armenien. Wer? Das derzeitige System. In Manavgat geben sie 90 Millionen Dollar für den Manavgat-Stausee aus. Für wen? Für Israel. Sie wollen Zypern weggeben. An wen? An die Griechen. Und sie hetzen sich jetzt ab, um der Europäischen Union beizutreten. Sie [die Europäer] denken aber nicht daran, uns in die Europäische Union aufzunehmen. Hmm! Auch wir denken auch nicht daran, ihr beizutreten. Denn der eigentliche Name der Europäischen Union lautet „Union der christlich-katholischen Staaten”. (Quelle: Hürriyet)


Auf Youtube gibt es ein Videoclip eines viereinhalbminütigen zusammenhängenden Ausschnitts aus der Rede. Hier der Redetext (das Video beginnt mit dem zweiten Satz. Der erste Satz ist Presse entnommen):

Die Souveränität gehört bedingungslos Allah

    Andauernd sagen sie: „Der Laizismus geht verloren, der Laizismus geht verloren!” Ja, wenn diese Nation es so will, wird der Laizismus selbstverständlich verloren gehen. [Applaus] Das ist nicht zu verhindern. Man kann diese Nation nicht mit Zwang unter Kontrolle halten. Der Nation zum Trotz läuft das sowieso nicht.

    Dann sagst du: „Was, um Gottes Willen, ist denn dieser Laizismus, definiere ihn!” Sie geben keine Definition. Sie sagen: „Nun, das ist überall verschieden.” Ja, was ist es denn nun? Also heute gibt es für jeden Begriff eine Definition im Wörterbuch. Und zu jedem Begriff, zu jedem Wort muß es eine Definition geben, die alle Einzelfälle umfaßt und alles, was nicht dazu gehört, ausschließt, damit jeder Begriff, jedes Wort seine Bedeutung, seinen Platz findet.

    Aber da kommt der Innenminister und sagt: „Der Staat ist für die Religion zuständig.” Und warum sagt er nicht den Rest? Er sagt nicht: „Die Religion ist für den Staat zuständig”.

    Gestern war ich in der Bogazici-Universität. Die jungen Leute scheinen sich dort schon ein bißchen inspirieren zu lassen, denn sie standen auf und verwendeten genau denselben Ausdruck: „Sagen Sie, verehrter Bürgermeister, was denken Sie über den Laizismus? Was wird geschehen? Es gibt Befürchtungen, daß der Laizismus verloren geht. Was wird geschehen?”

    Ich sagte den jungen Freunden folgendes: „Also, die Westler sagen doch: ‘Das Recht des Kaisers sei dem Kaiser, das Recht Gottes sei bei Gott’. Aber der Innenminister dieses Landes sagt: ‘Der Kaiser hat das Recht, Gott hat kein Recht.’ Ja nun! Mehr als 99 Prozent dieses Landes sind Muselmane!”

    Man kann nicht gleichzeitig laizistisch und muselmanisch sein! Entweder bist du Muselmane oder laizistisch!

    Wenn man beides zugleich ist, ist das so, wie wenn zwei Magnete sich gegenseitig abstoßen! Beides zugleich zu sein, ist ein Ding der Unmöglichkeit! Und weil dem so ist, kann niemand, der sich Muselmane nennt, zur Seite gehen und sagen: „Ich bin gleichzeitig auch laizistisch”. Warum? Weil Allah, der Schöpfer des Muselmanen, definitiv die Souveränität besitzt!

    „Die Souveränität gehört bedingungslos der Nation.” Schaut! Das ist eine Lüge. [Publikum: Ah!] Eine kolossale Lüge. Wir hatten ihren Staatsrechtlern einen Vorschlag gemacht. Wir hatten zu ihnen gesagt: „Kommen Sie, lassen Sie uns nach dem Satz ‘Die Souveränität gehört bedingungslos dem Volk’ einen Satz in Klammern hinzufügen.” – „Und was soll da stehen?” fragten sie. Ich sagte: „In Klammern schreiben wir dann: ‘einmal in fünf Jahren’”. Da fingen sie an zu lachen. „Was gibt’s da zu lachen?” sagte ich, „hat die Nation denn außer dem einen Mal in fünf Jahren ein solches Recht?” Sie stutzen und stutzten und guckten sich gegenseitig an. „Ja wirklich, eigentlich nicht”, sagten sie. [Gelächter, Applaus]

    Ja! Und wer hat das gesagt? Da gibt’s doch diesen Kaptikaçti*, oder wie der heißt. Eben der! Und wo hat er es gesagt? Im Jahr 85 hatten wir uns zu einer Diskussion im Hotel Marmara getroffen. Dort hatten wir über’s Grundgesetz gesprochen.

    Und als ich ihm das also gesagt hatte, stand er auf und sagte: „Das geht nicht, das können wir nicht tun!” Der ehemalige Finanzminister Vural Arikan war auch mit von der Partie, war sternhagelblau, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, und hatte auch was dazu zu sagen gehabt. Ich sagte: „Ich fürchte, Sie hatten dieses Grundgesetz am selben Tisch verfaßt.” Warum? Weil die Männer es nicht mit nüchternem Kopf verfaßt haben, sie haben es mit betrunkenem Kopf verfaßt!

    Und deshalb hat ihr Grundgesetz nicht mal zwei Jahre lang Bestand gehabt. Noch im dritten Jahr haben sie’s völlig durchlöchert. Und jetzt ist dieses Grundgesetz vollkommen zerfetzt. Ein Sack mit lauter Flicken! Und schaut, was sie jetzt sagen. Diese Tage haben Journalisten Fragen gestellt: „Was denken Sie zu diesem Thema?” - „Die Souveränität gehört bedingungslos der Nation.”

    Schaut, denkt gut darüber nach. Sie gehört der Nation, wenn sie wohin geht? Wenn sie zur Wahlurne geht. Aber im Materiellen wie im Geistigen gehört die Souveränität bedingungslos Allah.


* Wortspiel: „kaptikaçti” bedeutet „Taschendiebstahl”; Erdogan meint aber Prof. Orhan Aldikaçti, den Vorsitzenden der Grundgesetzkommission, die 1982 die Veränderung des Grundgesetzes vornahm.

* * *

Quellen:
Redeausschnitte in den türkischen Tageszeitungen vom 21.08.2001: Hürriyet , Radikal, Milliyet
Videoclip des Redeausschnitts: Youtube

Folgende Links zu den türkischsprachigen Quellen sind noch aktiv:
http://webarsiv.hurriyet.com.tr/2001/08/21/18523.asp
http://www.milliyet.com/2001/08/21/siyaset/asiy.html
http://www.youtube.com/watch?v=tozH0M1gQWI

Mittwoch, 4. Juli 2018

Chrestomathia Erdoganica (3) – Das Lied ist nicht zu Ende

von Corax
zuerst veröffentlicht am 21.04.2008 auf Kewils Blog "Fakten - Fiktionen"

Am 25. September 1998, einen Tag nachdem das Kassationsgericht die Verurteilung des Istanbuler Oberbürgermeisters Tayyip Recep Erdogan auf Grund seiner Rede in Siirt, in der er die berüchtigten Minarettenverse rezitiert hatte, wegen Volksverhetzung zu zehnmonatiger Haft, einer Geldstrafe und lebenslänglichem Politikverbot bestätigt hatte, fand im Festsaal des Rathauses zu Istanbul eine Pressekonferenz statt, auf der Erdogan vor rund 200 Pressevertretern aus dem In- und Ausland zu seiner Verurteilung Stellung nahm.

Seine Stellungnahme ist mehr als eine Stellungnahme vor der Presse, es ist eine Rede an die Nation oder an seine Anhänger, die er als die wahren oder rechtmäßigen Träger der Nation betrachtet. Zugleich richtet er sich mit seiner Rede auch an die demokratische Welt, um sie zu bewegen, ihn, der die Demokratie als Mittel bezeichnet hat, um ganz andere Ziele zu erreichen, wie etwa die Abschaffung menschengemachter Gesetze, zu unterstützen.

Vor dem Rathausgebäude und in den angrenzenden Seitenstraßen hatte sich eine Menschenmenge von ungefähr 30.000 Menschen wie zu einer Demonstration versammelt, um Erdogan zu hören, zu sehen und zu unterstützen. Auf drei draußen aufgebauten Großbildschirmen verfolgt die Menge die aus dem Festsaal übertragene Rede.

Also sprach Erdogan:

"Dieses Urteil hat seinen Schatten nicht nur auf das Rechtsverständnis unseres Landes, sondern auch auf das Vertrauen einer ganzen Nation in die Justiz geworfen. Trotzdem bin ich zuversichtlich. Denn solange meine Nation nicht betrübt ist, bin auch ich nicht betrübt. Soll doch Tayyip Erdogan verurteilt werden. Denn nur eines zählt: Diese liebe Nation darf niemals verurteilt werden und betrübt sein. Ich bedanke mich bei allen, die mit mir fühlen, und ich sage es wieder: Hier bin ich. Hier stehe ich vor den Augen meiner geliebten Heimat und der Weltöffentlichkeit und bin beruhigt. Seid auch ihr beruhigt. Dieses Lied ist hier nicht zu Ende. Denn wir sind ein Marathonläufer und wir sind mit dieser lieben Nation in leidenschaftlicher Liebe verbunden. Ich grüße euch alle voller Achtung und sage: Was Allah sagt, wird geschehen, und ich gebe euch Allah anheim.

Ich bin verurteilt worden, weil ich ein Gedicht rezitiert habe. Ich möchte vor allen Dingen deutlich machen, daß dieses Urteil eine Tragödie, eine beschämende Episode in unserer Rechtsgeschichte ist. Daß ich in einer Atmosphäre, in der die Bildung mafioser Gruppierungen und die Verdorbenheit einen Tiefpunkt erreicht haben, nicht wegen Korruption, nicht wegen Mordes, nicht wegen Verstoßes gegen die Rechte der Diener * bestraft werde, sondern einzig und allein wegen eines Gedichtes, das ich rezitiert habe, demütigt nicht mich, sondern einzig das Rechtsverständnis dieses Landes.

Dieses Strafurteil hat nicht das Vertrauen von Millionen in mich erschüttert; es hat ihr Vertrauen in die Gerechtigkeit erschüttert. Schon seit langem sind wir infolge der Parteiverbote und der Internierungen von Denkern, Politikern, Intellektuellen und Journalisten in Sorge darüber, daß die Politik einen Schatten auf die Justiz wirft, daß die Justiz politisiert wird. Andererseits haben wir doch auch immer tief in unserem Herzen fest daran geglaubt, daß die Tage kommen werden, wann die Gerechtigkeit sich offenbart, die Justiz einzig nach den Prinzipien der Gerechtigkeit arbeiten wird und wir diese einer dunklen Epoche zugehörigen Fatalitäten hinter uns lassen werden. Aber nach diesem letzten Urteil sehen wir: Die Justiz ist, wie der verehrte Vorsitzende des Kassationsgerichts bei der Eröffnung des neuen Gerichtsjahrs selbst zum Ausdruck gebracht hat, nicht wirklich unabhängig

Unsere politischen Konkurrenten [...] müssen sehr wohl begriffen haben, daß sie an den Wahlurnen gegen uns nicht bestehen können, daß sie uns nicht aufhalten können, denn sonst hätten sie nicht diesen Weg beschritten. Es ist ein falscher Weg. Denn eines Tages werden auch diejenigen, die jetzt die Justiz politisieren, die Gerechtigkeit nicht entbehren können. Dieses Urteil und die anderen Fehlurteile im Bereich der Gedankenfreiheit können Sie Ihren  eigenen Kindern nicht verständlich machen. Sie können es der Welt, in der wir leben, nicht verständlich machen. Denn bis heute hat noch nie irgendein Rechtsverständnis, irgendeine Regierung, irgendeine Macht ein Unrecht, das wem auch immer angetan worden war, legalisiert.

Schauen Sie sich die Katastrophe von Yassiada ** an, diese Katastrophe der Geschichte der Rechts, der Politik und der Demokratie in diesem Land. Seitdem sind 40 Jahre vergangen, die Welt hat sich verändert, aber betrachten Sie den Punkt, an den unser Land bei seinem Streben nach Menschenrechten und Demokratie gelangt ist. Wir stehen auf der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert. Betrachten Sie die Themen, mit denen wir uns beschäftigen. Wir klagen ein Gedicht an, wir grenzen einen Gedanken aus, wir stellen die Freiheiten zurück. Und dann beklagen wir uns darüber, daß uns die Welt wegen der Menschenrechte, wegen der Gedanken- und Ausdrucksfreiheit nicht mag. Wie weit können Sie mit diesen Verboten kommen? Welche Wahrheit können Sie mit diesen Verboten verdecken?

Ich denke nicht, daß ich mit dem Rezitieren dieses Gedichts irgendeinen Fehler gemacht hätte, und ich glaube, daß ich definitiv unschuldig bin. Ich habe in jener Rede zur nationalen Einheit, zum sozialen Frieden, zur untrennbaren Einheit des Landes aufgerufen. Es war die Stimme des Gewissens meiner lieben Nation, die für mich so wertvoll ist. Und meine liebe Nation wird auch meinen Platz in der Politik bestimmen.

Daher ist dieses ungerechte Urteil, das über mich gefällt wurde, für unseren Kampf um die Demokratie eine neue Auferstehung. Ein neuer Anfang. Möge er mit Glück gesegnet sein. Hat Tayyip Erdogan Spaltung betrieben? Hat er Hetze betrieben? Oder hat er einzig und allein dieser Nation gedient?

Jeder, der in meinem Land gedacht hat, gesprochen hat, gedient hat, wurde drangsaliert. Jetzt wollen sie auch uns drangsalieren. Wir werden uns nicht drangsalieren lassen, wir werden uns nicht einschüchtern lassen und wir werden mit noch größerer Stärke hervortreten. Mit diesem Urteil ist überhaupt kein Schlußstrich gezogen worden. Solange diese Seele in diesem Leib wohnt, wird sie zur Ungerechtigkeit nicht schweigen, werden wir weiterhin im Rahmen der universellen rechtlichen Regeln das Recht meiner Nation verteidigen."

* 'Rechte der Diener': 'Menschenrechte' in islamischem Sinn. 'Diener (Gottes)' = 'Mensch'.
** 'Katastrophe von Yassiada': Nach dem Militärputsch im Jahr 1960 wurde auf der Marmarainsel Yassiada der erste frei gewählte und zugleich erste islamistische Ministerpräsident Adnan Menderes zu Tode verurteilt. Ihm wurde der Versuch vorgeworfen, die Staatsverfassung aufheben und zu ersetzen, unter anderem wurde er aber auch beschuldigt, Drahtzieher der antigriechischen Pogrome in Istanbul im Jahre 1955 gewesen zu sein, bei denen mehrere Menschen ermordet wurden.

Der Chor:

Erdogan machte einen sehr bedrückten Eindruck. Die Menschenmenge draußen befeuerte ihn mit skandierten Parolen und Gesängen, konnte ihn damit aber nicht aufheitern. Erdogan war bei seiner Rede ruhig und gefaßt, an einigen Stellen wurde er emotional und erhob, wenn er seine Unschuld beteuerte, seine Stimme. Dabei begannen das AKP-Vorstandsmitglied Oya Akgönenç und einige Magistratsangehörige, lautlos zu weinen. Als Erdogan während seiner Rede auf das Gedicht, das zu seiner Verurteilung führte, zu sprechen kam, skandierte die Menge: "Noch einmal, noch einmal!". Erdogan erfüllte ihren Wunsch jedoch nicht.

Die Menschenmenge erfüllte sich diesen Wunsch selbst und rief aus einem Mund: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette sind unsere Bajonette". Sie sang auch gemeinsam die Nationalhymne und die Verse: "Wir wanderten gemeinsam auf diesen Wegen / Wir wurden gemeinsam naß im Regen / Jetzt geht's der Ministerpräsidentenschaft entgegen."

Die Menschenmenge kommt einer Demonstration gleich. Einige halten Poster und Transparente hoch, einige waten sogar trotz der frischen Witterung mit hochgehaltenen Postern in das Wasserbecken vor dem Rathausgebäude. Hürriyet notierte die Parolen, die von der Menge skandiert wurden:

"Dschihadkämpfer Erdogan"
"Schlag zu, schlag zu, sie sollen wimmern, Ankara soll hören!"
"Stirb, dann wollen auch wir sterben, schlag zu, dann wollen auch wir zuschlagen!"
"Ehrlose Medien!"
"Der Dicke in Çankaya * ist der Feind des Islam"
"Wo der Bürgermeister ist, sind wir!"
"Die Türkei ist stolz auf dich!"
"Regierung, zurücktreten!"
"Israel ist stolz auf Mesut" **
"Der Bürgermeister ist hier. Wo sind die Verbrecherbanden?"
"Wir sind zum Trotz alle Tayyips!"
"Hier sind die Tayyips. wo sind die Ehrlosen?"
"Allahu akbar!"

* Süleyman Demirel, der damalige Staatspräsident; Amtssitz in Çankaya
** Mesut Yilmaz, der damalige Ministerpräsident

Ausklang

Nach der Pressekonferenz trat Erdogan zusammen mit seinem Parteifreund Recai Kutan, dem Vorsitzenden der Tugendpartei, auf den Balkon, um die Menschenmenge zu begrüßen. Journalisten, Fotografen und Kameraleute, die ebenfalls auf den Balkon hinausgehen, um das Geschehen zu verfolgen, werden von der Menge mit Münzen, Feuerzeugen und ähnlichem beworfen. Ein Abgeordneter der Tugendpartei tritt vor, um die Menge zu beruhigen, wird aber von einem Wurfgeschoß an der Augenbraue verletzt und drängt daraufhin die attackierten Presseleute ins Gebäude zurück. Pressevertreter, die später das Gebäude verlassen wollen, werden ebenfalls von der Menge attackiert und genötigt, wieder im Rathaus Zuflucht zu suchen. Sie können schließlich nur unter dem Schutz von Sicherheitskräften das Gebäude verlassen.

Tags darauf kritisierte der türkische Presserat in einer schriftlichen Erklärung die Ausschreitungen. Darin hieß es: "Die politischen Kräfte, die das richterliche Urteil nicht anerkennen, gebrauchen das Wort 'Demokratie', das sie ständig im Munde führen, als eine Waffe gegen die physische Sicherheit der Presse und gegen das Recht, das Volk zu informieren."


Die vier der fünf Richter vom Kassationsgericht, die für das Urteil gestimmt hatten, erhielten nach der Urteilsverkündung unzählige Telefonanrufe und Briefe mit Beschimpfungen und Drohungen und wurden daher unter verstärkten Sicherheitsschutz gestellt. Die Zeitung Akit (der Vorläufer der islamistischen Zeitung Anadoluda Vakit) quittierte dies mit den höhnischen Schlagzeilen "Sie wagen sich nicht unter die Menschen" und "Sie haben sich in ihre Häuser eingeschlossen" und schreibt: "Die vier Verbotsrichter der 8. Strafkammer vom Kassationsgericht können niemandem mehr ins Gesicht sehen, weil sie ihr gegen die Gedankenfreiheit verstoßendes Urteil nicht verteidigen können." Auch andere islamisch gesinnte Zeitungen hetzten gegen die Richter.

Reaktionen aus dem Ausland

Aus Europa waren prompt Reaktionen auf den Urteilsspruch Kassationsgerichts eingegangen. Etwa 30 Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des Europarats hatten dazu eine schriftliche Erklärung aufgesetzt, worin sie das Urteil kritisierten. Andras Barsony und Walter Schwimmer (letzterer damals laut Wikipedia unter anderem Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei-Christdemokraten, Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und stellvertretender Vorsitzender des Rechts- und Menschenrechtsausschusses), die gerade vor zwei Wochen die Türkei besucht hatten und der Parlamentarischen Versammlung in den nächsten Tagen einen Türkeibericht vorlegen sollten, erklärten, daß Erdogan wegen Gedankenäußerungen verurteilt worden sei, und daß dieses Urteil gegen die Europäische Menschenrechtsvereinbarung verstieße. Auch das Europäische Parlament zeigte Reaktion. Der österreichische Abgeordnete Johannes Swoboda, der im November desselben Jahres einen Bericht zur Türkei vorlegen sollte, bewertete das Urteil als "beschämend für einen Anwärter auf EU-Mitgliedschaft wie die Türkei"

Auch von Seiten der USA kamen Reaktionen, die Erdogan unterstützten. Die amerikanische Generalkonsulin erklärte nach ihrem Besuch bei Erdogan: "Die Verurteilungen demokratisch gewählter Politiker aufgrund von Reden, die sie gehalten haben, verringern das Vertrauen in die türkische Demokratie."

Aus den islamischen Bruderländern dagegen kommt noch fünf Tage nach der Urteilsverkündung keinerlei Reaktionen, wie die Tugendparteileute enttäuscht zur Kenntnis nehmen. Parteichef Recai Kutan: "Ich denke es ist noch zu früh. Warten wir ab, welche Reaktion kommen wird."

Dieser Artikel beruht auf Berichten aus der türkischen Tageszeitung Hürriyet, die im Jahr 2008 noch im Internet verfügbar waren. Im Einzelnen:
Pressekonferenz und Reaktionen aus Europa: Hürriyet vom 25.09.1998
Erklärung des Presserats: Hürriyet vom 26.09.1998
Hetze islamischer Zeitungen gegen die Richter: Hürriyet vom 29.09.1998
Reaktion aus USA: Hürriyet vom 02.10.1998
Ausbleibende Reaktionen aus islamischen Ländern: Hürriyet vom 30.09.1998

Dienstag, 3. Juli 2018

Chrestomathia Erdoganica (2) – eine lyrische Posse

von Corax
zuerst veröffentlicht 2008 in Kewils Blog "Fakten-Fiktionen"


Die Minarette sind Bajonette, die Kuppeln Helme;
Die Moscheen sind unsre Kasernen, die Gläubigen Soldaten.

Dies ist ein Gedicht. Im türkischen Original reimt es sich. Es hatte in der Türkei für einen ordentlichen Rummel gesorgt und stand auch bei uns in den Zeitungen. Wahrscheinlich gehört es zu den in Westen bekanntesten Versen aus der türkischen Lyrik. Was sich aber im Westen noch nicht so herumgesprochen hat: Das Gedicht ist getürkt.

Es ist das Gedicht, das Erdogan eine Haftstrafe von vier Monaten wegen Volksverhetzung einbrachte und auf Grund dessen er ganz von der politischen Bühne verschwinden sollte. Und aus den Medien “wissen” wir auch, daß es von dem “türkischen Nationaldichter Ziya Gökalp” stammt, z.B. aus der Weltwoche Nummer 19 vom Jahre 2007:
in den neunziger Jahren löste der damalige Bürgermeister von Istanbul und heutige türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einen Skandal aus, als er öffentlich inbrünstig ein Gedicht des Türkentum-Ideologen Ziya Gökalp rezitierte: «Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Kuppeln unsere Helme, die Minarette unser Bajonette und die Gläubigen unsere Soldaten.»

Doch das Gedicht stammt nicht, wie von Erdogan stets behauptet, von Gökalp. Ziya Gökalp (1876 – 1924) gilt als ein Vordenker der modernen Türkei und Mitbegründer der nationalen Ideologie des Türkentums. Das Gericht konnte Erdogans Behauptung, daß das Gedicht von Gökalp stamme, nicht widerlegen, und so erreichte Erdogan den Effekt des Eindrucks, er sei verurteilt worden, weil der einen Vordenker der modernen Türkei zitiert hat.

Was war geschehen?

Am 26. Dezember 1997 hält Erdogan, Oberbürgermeister von Istanbul, auf dem “Platz der Republik” in der Geburtsstadt seiner Frau Emine, dem ostanatolischen Siirt – Erdogan ist Ehrenbürgerschaft dieser Stadt – vor einer etwa fünftausendköpfigen Menschenmenge folgende mehrmals von Allahu-Akbar-Rufen unterbrochene Rede (1):

“In der Türkei gibt es keine Gedankenfreiheit und es wird Rassendiskriminierung betrieben. Unsere Referenz ist der Islam. Sie werden uns niemals einschüchtern können. Sogar im Westen haben die Menschen Glaubensfreiheit. Warum hat man davor in der Türkei keine Achtung? Die Minarette sind Bajonette, die Kuppeln Helme; die Moscheen sind unsre Kasernen, die Gläubigen Soldaten. Niemand wird den Gebetsruf zum Schweigen bringen können. Wir werden der Rassendiskriminierung in der Türkei auf jeden Fall ein Ende setzen. Denn die Wohlfahrtspartei steht in ihrem Denken im Widerspruch zu den anderen Parteien. Sie werden uns niemals einschüchtern können. Auch wenn Himmel und Erde auseinanderbrechen, eine Sintflut sich über uns ergießt, Vulkane über uns ausbrechen, werden wir auf unserem Weg nicht umkehren. Meine Referenz ist der Islam. Wenn ich diesen nicht umsetzen kann, welche Bedeutung hat dann mein Leben noch? Sogar im Westen haben die Menschen Glaubensfreiheit. In Europa bringt man dem Gebet und dem Kopftuch Achtung entgegen. Aber in der Türkei werden Blockaden dagegen errichtet. Warum bringt man dem in der Türkei keine Achtung entgegen? Niemand wird den Gebetsruf zum Schweigen bringen können. Denn da, wo der Gebetsruf schweigt, können die Menschen keine Ruhe haben. Man kann die Kurden, Araber und Tscherkessen nicht diskriminieren. Denn das Dach, unter dem sich alle Menschen vereinen, ist der Islam. Wir werden der Rassendiskriminierung in der Türkei auf jeden Fall ein Ende setzen. Die Menschen, die diese Zustände geschaffen haben, sollen sich schämen.”


So die von der türkischen Presse überliefert Rede, auf Grund derer Erdogan 1998 wegen Volksverhetzung zu 10 Monaten Haft (von denen er dann im Jahre 1999 gemäß des Strafvollzugsgesetzes 4 Monate absitzt), einer Geldstrafe und lebenslänglichem Politikverbot (das dann später unter der Regierung Gül infolge einer entsprechenden Gesetzesänderung aufgehoben wird) verurteilt wurde.

Erogan behauptete vor Gericht, daß das rezitierte Gedicht von Ziya Gökalp stamme, und niemand konnte ihn darin stichhaltig widerlegen – bis zum Jahre 2002.

Im September 2002 schrieb der Journalist Murat Bardakçi in einem Artikel in der Hürriyet (2), daß er sich schon während des Prozesses gegen Erdogan für diese mysteriöse Minarettenverse interessiert habe. Wie er schreibt, wurde durch den Prozeß eine hitzige Debatte um das Gedicht entfacht: Stammten die Verse wirklich von Gökalp oder nicht, und wie sind sie zu bewerten? Niemand konnte seine Ansicht darüber schlüssig beweisen. Erdogans Rechtsanwälte gaben als einzige Quelle das vom Türkischen Institut für Normung (entspricht dem deutschen DIN) im Jahre 1994 veröffentlichte Buch “Türke und Türkentum” an. Tatsächlich sind dort sind diese Verse mit der Autorenangabe “Ziya Gökalp” abgedruckt. Bardakçi suchte aber nach der Originalquelle. Er durchforstete alle Ziya-Gökalp-Ausgaben und Bibliographien, derer er habhaft werden konnte. Ohne jeden Erfolg. Daraufhin bat er Prof. Dr. Inci Enginün, eine Koryphäe auf dem Gebiet der neueren türkischen Literatur, um Hilfe. Auch sie begann zu forschen – ebenfalls ohne Erfolg. Erdogans Minarettenverse kamen in den Schriften Ziya Gökalps einfach nicht vor.

Mitten in der Ziya-Gökalp-Debatte und kurz bevor das Kassationsgericht Erdogans Verurteilung bestätigte, geschah, wie Bardakçi weiterschreibt, wieder etwas Merkwürdiges: Recai Kutan, der damalige Vorsitzende der Tugendpartei (der auch Erdogan angehörte) trat auf den Plan und verteilte das angeblich vollständige Ziya-Gökalp-Gedicht. Dieses Gedicht begann mit den von Erdogan in Siirt rezitierten Versen. Die erste Strophe bestand aus vier Versen, den beiden Minarettenversen und noch zwei weiteren. Die restlichen drei Strophen aber hatten statt vier fünf Verse. Außerdem harmonierte die erste Strophe auch im Reimschema und im poetischen Aufbau nicht mit den restlichen drei Versen. Das war schon mal merkwürdig.

Die miteinander harmonierenden Strophen zwei bis vier waren aber tatsächlich von Ziya Gökalp, und zwar aus einem Gedicht mit dem Titel “Soldatengebet” (aus dem Jahr 1913). Das von Kutan verbreitete Gedicht war also mit großer Wahrscheinlichkeit eine Fälschung (und so war es auch, wie sich zeigen sollte). Die erste Strophe des Originalgedichts “Soldatengebet” fehlte und war durch den Vierzeiler mit den Minarettenversen ersetzt; außerdem fehlte auch die zweitletzte Strophe des Originalgedichts. Hier die beiden Versionen in Prosaübersetzung:

Das Originalgedicht von Ziya Gökalp aus dem Jahre 1913:

Soldatengebet

In meiner Hand ist das Gewehr, in meinem Herzen der Glaube.
Meine Wunsch ist zweierlei: Religion und Vaterland.
Mein Heim ist das Heer, mein Führer der Sultan,
Steh dem Sultan bei, mein Gott!
Laß den Sultan lange leben, mein Gott!

Unser Weg ist der Krieg, sein Ende das Märtyrertum,
Unsere Religion will Dienst aus vollem Herzen,
Unsere Mutter ist das Heimatland, unser Vater die Nation,
Laß das Vaterland erblühen, mein Gott!
Mach die Nation glücklich, mein Gott!

Meine Fahne ist der Monotheismus, meine Flagge der Halbmond,
Die eine ist grün, die andere rot,
Nimm Rache am Feind, der dem Islam ein Schmerz ist,
Gib dem Islam Ewigkeit, mein Gott!
Vernichte den Feind, mein Gott!

Kommandanten und Offiziere sind unsere Väter.
Unteroffiziere und Obergefreite sind unsere älteren Brüder.
Rang und Respekt sind unsere Gesetze
Ordne das Heer, mein Gott!
Laß die Fahne obsiegen, mein Gott!

Wie viele hübsche Burschen auf dem Schlachtfeld
Wurden zu Märtyrern für Religion und Heimat!
Ihr Heimatherd soll rauchen, die Hoffnung nicht erlöschen,
Mach den Märtyrer nicht traurig, mein Gott!
Mach seinen Stamm nicht schwach, mein Gott!

Die von Kutan 1998 an die Presse verteilte Version:

Die Minarette sind Bajonette, die Kuppeln Helme
Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Gläubigen Soldaten
Dieses Gottesheer behütet meine Religion
Allahu Akbar, Allahu Akbar.

Unser Weg ist der Krieg, sein Ende das Märtyrertum,
Unsere Religion will Dienst aus vollem Herzen,
Unsere Mutter ist das Heimatland, unser Vater die Nation,
Laß das Vaterland erblühen, mein Gott!
Mach die Nation glücklich, mein Gott!

Meine Fahne ist der Monotheismus, meine Flagge der Halbmond,
Die eine ist grün, die andere rot,
Nimm Rache am Feind, der dem Islam ein Schmerz ist,
Gib dem Islam Ewigkeit, mein Gott!
Vernichte den Feind, mein Gott!

Wie viele hübsche Burschen auf dem Schlachtfeld
Wurden zu Märtyrern für Religion und Heimat!
Ihr Heimatherd soll rauchen, die Hoffnung nicht erlöschen,
Mach den Märtyrer nicht traurig, mein Gott!
Mach seinen Stamm nicht schwach, mein Gott!

Wie Bardakçi schreibt, wurde das Soldatengebet erstmals 1913 veröffentlicht, als gerade der Balkankrieg wütete. Mit dem im Gedicht erwähnten “Feind” seien die Bulgaren und andere Balkanvölker gemeint, mit denen die Türken im Krieg lagen.

Bardakçi schreibt, daß das von Kutan vorgebrachte verfälschte und gekürzte Soldatengebet durch diese Manipulation einen “militanten Charakter” angenommen habe, den das Original nicht aufweise; dieses sei in einem “patriotischen” und nicht, wie das verfälschte Gedicht in einem “religiösen Geist” geschrieben.

Das ist eine bemerkenswerte Aussage. Natürlich wurde das islamische Element durch die Manipulation verstärkt, aber das Originalgedicht von Gökalp hat gleichwohl einen unverkennbar starken Bezug zum Islam. In jeder Strophe ist Islam (als religiöses Element) und Vaterland (als säkulares Element) zu einer untrennbaren Zweieinheit verquickt.

Die aufgepfropfte Fremdstrophe im manipulierten Gedicht enthält freilich keinen patriotischen (säkularen) Bezug, sondern nur einen islamischen: Das Heer erscheint als reines, einzig dem Islam dienendes Gottesheer. Dafür wurde die zweitletzte Strophe des Originals, in dem das Heer mit rein säkularen Begriffen beschrieben wird (Kommandanten und Offiziere sind Väter, Unteroffiziere und Obergefreite sind große Brüder, das Gesetz ist – nicht der Islam, sondern – Rang und Respekt; es ist auch die einzige Strophe, in der der Islambezug nur in den beiden letzten Versen, in denen Gott angerufen wird, vorkommt) gestrichen. Diese Manipulation macht in den Augen Bardakçis das gesamte gefälschte Gedicht zu einem nicht mehr “patriotischen”, sondern zu einem “religiösen” und “militanten” Gedicht.

Man kann dies als eine Illustration dafür sehen, daß sich Islamisten und Säkularisten in der Türkei in einem wichtigen Punkt doch einig zu sein scheinen, nämlich in dieser Zweieinheit Vaterland-Islam, die für beide Lager das Türkentum ausmacht. Beide Lager scheinen sich nur darin zu unterscheiden, daß sie die beiden Elemente dieser Zweieinheit verschieden gewichten. Denn auch die Säkularisten (Kemalisten) rühren den Status des Islams als Staatsreligion nicht an. Sie hatten sich bemüht, den Islam zu zähmen und, von säkularen Kräften überwacht, in den Dienst des Säkular-Patriotischen zu stellen, ihn dem säkular-patriotischen Gedanken unterzuordnen. Die Islamisten dagegen zielen umgekehrt darauf ab, daß das Patriotische vom Islam dominiert und überwacht wird.

Wie Bardakçi weiterberichtet, brachte Recai Kutan auch eine Geschichte zur Entstehung seines vorgelegten gefälschten Gedichts vor. Demnach soll während des Türkischen Befreiungskriegs (1919 bis 1923), und zwar zu einer Zeit, als die nationale Bewegung des Mustafa Kemal (des späteren Atatürk) in einer finanziellen Notlage stak, ein gewisser Hasan Fehmi Ataç dem Mustafa Kemal den Vorschlag gemacht haben, Moscheen als Kasernen zu benutzen, aus dem Blei ihrer Kuppeln Kugeln zu schmelzen und die Halbmondspitzen der Minarette zu Bajonettspitzen umzuschmieden. Mustafa Kemal habe daraufhin Hasan Fehmi Ataç sofort zum Schatzmeister ernannt und die Umsetzung seiner Vorschläge angeordnet. Dies habe damals Ziya Gökalp zu dem Gedicht, das Kutan vorlegte, inspiriert. Wie Bardakçi nachweist, ist aber auch diese Geschichte erfunden, da sie in mehrerer Hinsicht den nachweislichen historischen Fakten widerspricht.

Erdogans Parteifreund Kutan hatte damit eine andere Deutung der Minarettenversen ins Spiel gebracht als die, auf die sich Erdogan selbst in seiner Verteidigung vor Gericht berief. Nach Erdogan (3) beziehen sich die Majonettenverse auf die Schlacht von Mantzikert (1071) zwischen den Byzantinern und den Seldschuken. Es seien die von Ziya Gökalp in lyrische Form gegossene Antwort des seldschukischen Sultans Alp Arslan auf den Ausspruch des byzantinischen Kaisers Romanos IV. Diogenes:

“Ich will den Koran zerreißen,
Ich will die Kaaba abreißen,
Damit niemand, der in den Osten kommt,
die Kuppeln mit den Minaretten sieht.”

Als Bardakçis Artikel in der Hürriyet erschienen ist, erhält er prompt von einem Leser eine E-Mail, in der das Geheimnis der Autorenschaft der Minarettenverse gelüftet wird, und Bardakçi berichtet darüber gleich am folgenden Tag in der Zeitung (4). Der wirkliche Autor der Minarettenverse ist der Vater des E-Mail-Schreibers, ein kaum bekannter 1981 verstorbener Dichters namens Cevat Ördek. Die Minarettenverse sind die Anfangsverse seines Gedichts “Gottesheer”, das er in zwei seiner Gedichtbände veröffentlicht hatte. Die erste Strophe des Gedichts “Gottesheer” ist zudem identisch mit der ersten Strophe des von Kutan verbreiteten getürkten Ziya-Gökalp-Gedichts. Das Gedicht “Gottesheer” war sogar, wie der E-Mail-Schreiber mitteilt und wie Bardakçi verwundert zur Kenntnis nimmt, mit richtiger Autorennennung am 13 Mai 1999 in der Zeitschrift “Tempo Dergisi” wiederveröffentlicht worden, ohne daß das irgend jemandem aufgefallen war, was wirklich sehr verwunderlich ist, angesichts des Wirbels und der Ziya-Gökalp-Debatten, die Erdogans Minarettenverse ausgelöst hatten.

Laut Urteil des Kassationsgerichts (5) wurde Erdogan nach Paragraph 312 des Türkischen Strafgesetzbuchs wegen Aufhetzung des Volkes zu Haß und Feindschaft durch Spaltung des Volkes in religiöser Hinsicht verurteilt. Er habe das Volk in zwei Lager gespalten, nämlich in das Lager derer, “‘die dem Diener dienen’, also das kemalistische, laizistische Lager” und das Lager derer, “‘die Gott dienen’, also die Muslime, die die Scharia in den Islam integrieren”. Damit habe er faktisch “zum Krieg aufgerufen”.

Obgleich das Kassationsgericht in seiner Urteilsschrift schreibt, daß “religiöse Gefühle gemäß des Grundsatzes des Laizismus nicht in Staatsangelegenheiten und in die Politik vermischt werden dürfen”, und daß Erdogan sich des Verstoßes gegen diesen Grundssatz schuldig gemacht habe, beruft sich das Kassationsgericht in derselben Urteilsschrift auch auf den Koran (und vermischt damit selbst Religion in eine – juristische – Staatsangelegenheit). In der Urteilsschrift heißt es:

 “Die Religion des Islam ist eine Religion des Friedens und der Brüderlichkeit. Unter den Muslimen darf keine Spaltung betrieben werden. Es liegt nicht im Ermessen des Angeklagten, festzulegen, wer bei Allah der beliebtere Muslim ist. In Sure 41 Vers 8 heißt es: ‘Wenn zwei Gruppen der Gläubigen miteinander streiten, so stellt die Eintracht unter ihnen wieder her’. Der Angeklagte aber hetzt, wenn auch versteckt, eine Gruppe gegen eine andere auf.”

Darin zeigt sich wieder die patriotisch-islamische Zweieinheit des Türkentums. Offiziell wird Erdogan natürlich aufgrund eines Paragraphen des säkularen Strafgesetzbuches wegen Volksverhetzung verurteilt (Säen von Untracht in der Nation). Gleichzeitig wird aber auch darauf hingewiesen, daß sich Erdogan auch eines religiösen Vergehens, nämlich der Fitna (Säen von Untracht in der Umma) schuldig gemacht habe.

Erdogan sieht es natürlich anders herum: Aus seiner Sicht hat das säkulare Lager die Zwietracht gesät und das Volk in diejenige, die “dem Diener dienen” und diejenige, “die Gott dienen” gespalten. Genau davon handelte ja seine Rede in Siirt.

Erdogan kommentierte seine Verurteilung wie folgt (6):

 “Das Gedicht, das ich zitiert habe, ist kein Gedicht, das ich da zum ersten Mal rezitiert habe. Schon von meiner Schulzeit an habe ich dieses Gedicht wohl hunderte mal rezitiert. Ich habe es auch auf dem Taksim-Platz [zentraler Platz in Istanbul] rezitiert, ich habe es vor hunderttausenden Menschen rezitiert. Damals ist aber nichts passiert. Warum? Erst mal ist dieses Gedicht ein Gedicht von Ziya Gökalp. Es steht in einem Buch, das das Türkische Institut für Normung herausgegeben hat. Es ist ein Gedicht, das vom Ministerium für Nationale Erziehung, vom Hohen Ausschuß für Lehre und Erziehung empfohlen wird. Wenn Sie die Rede inhaltlich als Ganzes betrachten, finden Sie darin keine Religions-, Sprachen- oder Rassendiskriminierung, sondern ganz im Gegenteil eine Vereinigung. Eine derartige Vereinigung, daß die Menschenmenge – und es waren Araber, Kurden mit auf dem Platz – nach der Kundgebung ohne Streit und Lärm auseinander ging. Hand in Hand, Schulter an Schulter gehen sie auseinander, und als ich sie frage: “Reicht es euch nicht, Bürger der Türkischen Republik nicht?” bekomme ich von ihnen die Antwort: “Das reicht uns!” Wir haben mit einem gemeinsamen Treffen, einer Rede eine solche Verbundenheit erweckt auf diesem Platz, daß unsere Bürger danach Hand in Hand und Schulter an Schulter auseinandergingen. Und leider werde ich nun von einer Stelle, von der ich eine Bewertung entgegen nehmen muß, mit einem solchen Ergebnis konfrontiert.”


Quellen:
(Anmerkung 2018: Alle Links sind nicht mehr aktiv!)

Weltwoche: http://www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=16471
(1) <a href="http://dosyalar.hurriyet.com.tr/hur/turk/98/09/24/gundem/12gun.htm">Hürriyet 24.09.1998</a>
(2) Murat Bardakçis erster Artikel: <a href="http://hurarsiv.hurriyet.com.tr/goster/haber.aspx?id=99109&yazarid=28">Hürriyet 22.09.2002</a>
(3) <a href="http://arsiv.sabah.com.tr/1998/09/05/y02.html">Sabah 05.09.1998</a>
(4) Murat Bardakçis zweiter Artikel: <a href="http://hurarsiv.hurriyet.com.tr/goster/haber.aspx?id=99286&p=2">Hürriyet 23.09.2002</a>
(5) <a href="http://www.akumil.gen.tr/modules/AMS/print.php?storyid=790">Urteilsschrift des Kassationsgerichts</a> oder Bericht darüber in <a href="http://dosyalar.hurriyet.com.tr/hur/turk/98/09/26/gundem/11gun.htm">Hürriyet 26.09.1998</a>
(6) <a href="http://www.radikal.com.tr/haber.php?haberno=56867">Radikal 17.11.2002</a>